Der Zauberberg. Roman.
Thomas Mann, (EV 1924), 1997, S. Fischer (HC)
Die Zeit ist ein seltsames Gut, und das ist, könnte man meinen, das
Motto, die Prämisse dieses gewaltigen Buches. Zeit verhält sich
nicht, sondern ergibt sich aus der Betrachtung, die sich hier sozusagen
mit sich selbst in Rekursion befindet, denn sowohl Autor als auch Protagonist
schwelgen in dieser.
Hans Castorp, ein eher farbloses, aristokratisches Mittzwanziger- Weichei
aus Hamburg, soeben als Ingenieur examiniert, aber eigentlich noch immer
unentschlossen was die nähere Zukunft anbetrifft, tritt auf Anempfehlung
seines Hausarztes einen Kurzbesuch im Davoser Sanatorium "Berghof"
an, wohl auch, um seinen Cousin Joachim zu besuchen, der bereits monatelang
dort verweilt. "Feuchte Flecken" an der Lunge und die sich aus
dem verlockend-zeitlosen Ambiente der luxuriösen Sanatoriumsanlage
ergebenden Befindlichkeiten bewegen Castorp dazu, seinen Aufenthalt zu verlängern.
Auf über sieben Jahre schlußendlich, bis der Ausbruch des ersten
Weltkrieges dem eher geselligen, denn therapeutischen Beisammensein zwischen
fünf ausgiebigen täglichen Mahlzeiten, "Liegediensten"
und gesprächsreichen Lustwandlungen ein Ende setzt.
Einen solchen Klassiker zu rezensieren, das wage ich kaum. Ich kann nur
meinen Eindruck wiedergeben. Die Hauptfigur, die ich nicht als den "Helden"
des Buches bezeichnen möchte (und Mann tut dies auch nur augenzwinkernd),
verfällt alsbald dem Reiz des Losgelöstseins von jeglicher Verantwortung
und Entscheidung, pflegt sein kaum vorhandenes Zipperlein und einen wachsenden,
höchst sittlich installierten Bekanntschaftskreis, nähert sich
gar - vergleichsweise ungestüm - der verehrten Dame vom "guten
Russentisch" an und lauscht gebannt absorbierend den Zwiegesprächen
der - aus meiner Sicht - eigentlichen Hauptfiguren, zweier im Permanentdiskurs
befindlichen Herren namens Settembrini und Naphta, selbst lungenkrank, der
eine anarchistischer Jesuit und der andere humanistischer Pädagoge.
Obschon die Dialoge zu allen Themen der Politik, Philosophie, Kultur und
Religion zeitweise etwas weitschweifig ausfallen, ist es gerade die bestechend-ironische
Eloquenz dieser Diskussionen, die mir große Freude bereitet haben.
Gleichzeitig bindet das Buch auf beeindruckende Weise an Umfeld, zeitbezogene
Moral- und Sittenvorstellungen, zeichnet feinfühlig, detailverliebt
und mit unfaßbar subtiler Ironie eine Welt und ein Zeitgefühl,
das nachzuempfinden unbändigen Genuß bereitet, mir bereitet hat.
Besondere Dramatik findet im "Zauberberg" nicht statt, obwohl
Hauptfiguren sterben, denn das ist immanent, wir sind schließlich
in einem Lungensanatorium. Nein, die gefügten und akribisch geschilderten
Wahrnehmungs- und Verhaltenskontexte sind es, die die Spannung erzeugen,
in einem Buch, das gänzlich ohne drastische Handlungselemente auskommt,
ganz im Gegenteil, da die Bindung des Lesers an eben jenen Kontext Identifikation
und Mitfühlen erzeugt, ohne daß hierfür heutzutagige literarische
Brachialmaßnahmen erforderlich wären.
Spannend, bildend, überaus amüsant, und ein Zeitdokument von ganz
besonderer Art.
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