Wie man leben soll. Roman.
Thomas Glavinic, dtv 2004
Man mag es
Karl "Charlie" Kolostrum ist ein "Sitzer", ein "Schulterzucker", jedenfalls zu etwa 97 Prozent, behauptet irgendeines der vielen Lebensratgeberbücher, die er verinnerlicht hat. Er ist zu dick und hat unreine Haut, anstrengende Verwandte (zuvorderst "Die Tankels", eine enervierende Tante-Onkel-Kombination, die alles besser weiß und - leider - das Geld hat, das Karl ständig benötigt), keine Ambitionen, von denjenigen abgesehen, die das menschliche Naturell auch jenen nicht vorenthält, die ansonsten passiv bleiben. Bereits in der Schulzeit zeigt sich, dass unser Held nur in jenen Teichen erfolgreich fischen kann, die besser aussehende aus gutem Grund meiden.
Glavinic erzählt vom Erwachsenwerden, das aber eigentlich nie stattfindet. Obwohl letztlich fast zwei Jahrzehnte aus dem Leben Karls Gegenstand der Geschichte sind, verändert sich kaum etwas. Karl absolviert die Schule, sammelt seine ersten sexuellen Erfahrungen mit minder attraktiven Vertreterinnen des anderen Geschlechts, studiert Kunstgeschichte, weil er im Wortsinn zu lebensmüde für gravierende(re) Entscheidungen ist, zieht in eine WG, wird Taxifahrer und am Ende, völlig unverhofft, aber immer erträumt, Gesangsstar. Er hat Beziehungen, für die er sich abmüht, die sich aber immer dann als hinderlich erweisen, wenn sie gut zu funktionieren scheinen, ist ansonsten ein Mitläufer, der Gemeinschaft auch genießt, aber nie so recht versteht. Seine einzige echte Sorge gilt der alternden Erbtante Ernestine, die von den anderen Verwandten gemieden wird, und die er des nachts heimlich besucht, um sich ihrer Gesundheit zu versichern. Er summt ständig Lieder, meistens, ohne das selbst zu bemerken, und verspürt als Mittzwanziger den dringenden Wunsch, nachts bei "Talk Radio" mit Dieter Moor zu sprechen, was aber wiederholt scheitert. Seine persönlichen fünfzehn Minuten Ruhm bleiben ihm zunächst versagt.
Karl protestiert nie, weil er als nur dreiprozentiger Draufgänger dafür nicht gemacht ist, und sein Leben passiert ihm. Dass der Moment der größten Peinlichkeit zum zweifelhaften Triumph wird, ist da nur konsequent. Und auch die Tatsache, dass einige Leichen Karls Lebensweg pflastern, darunter die von Erbtante Ernestine.
Glavinic erzählt summarisch, wenn man so will, und man will. Charlie Kolostrum (Kolostrum bezeichnet die "Erst-" oder "Biestmilch", also jene Milch, die eine Kuh nach dem Kalben gibt) steht für eine Gruppe von Menschen, weshalb der Autor seine Hauptfigur und jene Gruppe permanent auf das Indefinitpronomen "man" reduziert und im Präsens aus dieser ungewöhnlichen Perspektive von ihr berichtet. Seine Hauptfigur ist der pop- oder postmoderne "Mann ohne Eigenschaften", eine Person ohne Konturen, komplett fremdgesteuert, aber dennoch liebenswert und in seiner riesenbabyhaften Passivität enorm amüsant. Die lakonische Erzählweise, die von hinreißenden Merksätzen durchbrochen wird, generiert einen Strom, und der in ihm treibende Leser wird niveauvollem Witz, entlarvenden Beobachtungen und verblüffenden Lebensweisheiten ausgesetzt.
Man mag es. Sehr. Ein Kunstwerk, und kein kleines.