Eine zu 85 % wahre Geschichte. Roman.
Chuck Klosterman, S.Fischer 2006
Lost in Music
Der ich-erzählende Musikjournalist Chuck wird von seinem Magazin "Spin" auf eine Reise quer durch die USA geschickt. 600 CDs liegen auf der Rückbank des Ford Taurus, den er "Tautan" nennt. Die Tour soll an Orte führen, an denen Rockmusiker gestorben sind, denn Chuck soll darüber schreiben, welche Bedeutung der Tod von Rockstars für die Musik und das Leben der Fans hat.
Der erste Halt ist West Warwick, Rhode Island, wo vor kurzem - das Buch stammt aus dem Jahr 2003 - hundert Zuschauer der Band Great White gestorben sind, bei einem Brand, der durch die Pyrotechnik auf der Bühne ausgelöst wurde. Auch der Great White-Gitarrist Ty Longley kam ums Leben. Andere Stopps sind die Absturzstelle des Flugzeugs, in dem Richie Valens und Buddy Holly saßen, die Tour führt u.a. über Memphis und endet zwei Wochen später in Seattle, wo Kurt Cobain mit seinem Selbstmord die Rockgeschichte und das Leben vieler seiner Anhänger (von denen die meisten Nirvana vorher überhaupt nicht mochten, wie Chuck diagnostiziert) veränderte.
Dieser Roman ist insofern ein Reisebericht, der von langen Essays durchsetzt ist, in denen es zum Beispiel um die Bedeutung des Albums "Kid A" von Radiohead, die Soloplatten der KISS-Musiker, die (durch Cobains Tod nachträglich verfälschte) Geschichte des Grunge und vieles mehr geht - und, natürlich, ums Sterben. Aber hauptsächlich ist Rockmusik das Thema, denn Chuck ist jemand, dem Musik so viel bedeutet, dass er sein ganzes Leben daran ausrichtet und misst. Die Mitglieder der von ihm sehr verehrten Kapelle KISS beispielsweise stehen als Synonyme für verflossene, vergeigte und verpasste Beziehungen. Denn Chuck ist auch verliebt, in Quincy, Diane und Leonore. Aber das mit Leonore ist längst - und immer wieder - vorbei, Quincy wird schließlich heiraten, und Diana ist eigentlich auch nicht die richtige. Vielleicht ist es Lucy, die "Spin"-Reakteurin - der einzige Mensch, der Chuck zu vermissen scheint.
Also kein Roman, sondern eine wissensreiche Geschichte über Rockmusik, das Verhältnis zwischen Fans und Künstlern, aber auch über Filme, Literatur, Einsamkeit und die seltsamen Menschen, denen Chuck begegnet, etwa eine über Kafka schwadronierende Kellnerin in einem Diner, in die er sich ein ganz klein wenig verliebt. Von sich selbst und über die (Musik-)Welt parlierend, führt uns Chuck eine liebenswerte Daseinsform vor, in deren Zentrum ein Fetisch steht, den viele verstehen dürften, die ihre Plattensammlungen wie Säuglinge hegen, vergilbte Konzerttickets sammeln und für enorme Summen minderwertige Bootlegs kaufen.
Das Buch ist kurzweilig, häufig enorm lustig, sehr klug und wirklich interessant, aber auch ein wenig konzeptlos, weil die Mischung aus einer Einführung in die Rockgeschichte, Albumrezensionen (die den Eindruck erwecken, überhaupt nicht während dieser Fahrt entstanden zu sein), persönlichen Erlebnissen, Liebesgeschichten und Begegnungen häufig keiner eindeutigen Richtung zu folgen scheint. Das ganze endet mehr oder weniger im Nichts, woran auch die kurz vor Schluss hastig gereichten Enden der skizzierten Liebeleien nichts ändern. Bis dahin erfährt man allerdings eine Menge, und Chuck Klostermans Art, zu erzählen, ist sehr vereinnahmend. Er ist ein Wahnsinniger und ein sehr empathischer Liebhaber, und ein bisschen auch jemand, der eine Ahnung davon hat, warum sein Leben nicht funktioniert, der aber um keinen Preis etwas an der Ursache ändern würde.
Übrigens bin ich sicher, dass die Geschichte zu mindestens 88 % wahr ist.