Vom Atmen unter Wasser. Roman.
Lisa Marie Dickreiter, Bloomsbury Berlin
Fast perfekt
Vor einem Jahr ist die sechzehnjährige Sarah auf dem Heimweg - von einer Party kommend - ermordet worden. Etwas wie Normalität ist bei Familie Bergmann längst nicht wieder eingekehrt. Anne, die Mutter, versucht, sich umzubringen, um der lähmenden Traurigkeit zu entkommen. Der Versuch scheitert, und fast minütlich wächst die Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit bei den drei Hinterbliebenen. Der Mann, Johannes, tröstet sich mit einem Seitensprung und stürzt sich zur Ablenkung mehr als nötig in seine Tätigkeit als Sozialarbeiter, im Rahmen derer er ausgerechnet Mädchen in Sarahs Alter davor zu bewahren hat, auf die allzu schiefe Bahn zu geraten. Simon, der Sohn, der eigentlich für sein Physikum pauken müsste, wird vom Vater in die Rolle des Mutterbeschützers gedrängt. Anne aber kämpft gegen das schleichende Vergessen an, sucht nach Schuldigen, obwohl der Täter gefasst und verurteilt ist. Sie wird bei Sarahs bester Freundin Elena fündig. Denn den Grund dafür, dass Sarah recht früh die Party verlassen hat, hat sie geliefert. Und ausgerechnet mit Elena hat Simon inzwischen ein Verhältnis.
Dieser größtenteils bemerkenswerte und bedrückende Roman ist entstanden, nachdem Lisa Marie Dickreiter das Drehbuch für den gleichnamigen Film geschrieben hatte. Dass sich die Autorin hier auf fachfremdem Boden bewegt, ist dem grandios betitelten Werk hin und wieder anzumerken. Ihre Bemühungen, den Verzicht auf die visuelle Komponente durch knappe, emotionsarme, prägnante Sprache, die zuweilen an Regieanweisungen erinnert, zu kompensieren, gelingt nach meinem Gefühl aber nicht immer. Es entsteht eine seltsame Distanz, aus dem Leser wird ein Zuschauer, was häufig durchaus packend und berührend wirkt, aber die Architektur des Romans lässt nie zu, dass diese Distanz gänzlich überwunden wird. Dickreiter lässt ihre Figuren agieren, dringt nur selten in sie ein, beschreibt Gefühlswelten mit Hilfe vieler kleiner Szenen und erzählerischer Tricks, was tatsächlich den merkwürdigen Eindruck vermittelt, einen Film zu lesen, eine Geschichte anzuschauen, aber unterm Strich fehlt an entscheidenden Stellen jene Nähe, aus der Empathie entstehen könnte. Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Autorin hat das Szenario auf vortreffliche Weise dramaturgisch verpackt, aber ich vermisste beim Lesen den wesentlichen Schritt in die Figuren hinein; es ist, als wäre die Hilflosigkeit ihres Romanpersonals manchmal auf die Autorin übergegangen. Zudem wirken einige Handlungselemente wie die Beziehung zwischen Simon und Sarahs Freundin oder der Seitensprung des Vaters, die im Film sicherlich nötig waren, um die Zuschauer fortwährend zu fordern, ein wenig überzogen, um nicht zu sagen überflüssig. Weniger wäre hier meiner Meinung nach tatsächlich mehr gewesen, zugunsten einer stärkeren Fokussierung auf diejenigen, die weiterleben müssen, obwohl ein wesentlicher Teil von ihnen gestorben ist. Stewart O'Nan hat das in seinem fantastischen Roman "Alle, alle lieben dich", der eine recht ähnliche Geschichte erzählt, dann doch etwas besser hinbekommen.
Aber das ist Nörgelei auf sehr hohem Niveau. "Vom Atmen unter Wasser" zeigt eindrucksvoll das Schicksal jener, die nicht strafrechtlich Opfer sind, aber als Überlebende und im Wortsinn Hinterbliebene ohne Hilfe von außen mit einer Situation zurechtkommen müssen, die nach menschlichen Maßstäben nicht zu bewältigen ist. Das Buch präsentiert eine ausweglose, deprimierende und sehr nachvollziehbar geschilderte familiäre Grenzsituation, vermittelt anschaulich die Wucht und Dramatik, im Kleinen wie im Großen, und großartigerweise unter Verzicht auf naheliegende Effekthaschereien. Lisa Marie Dickreiter ist zweifelsohne eine exzellente Studie gelungen, die vielleicht perfekt geworden wäre, hätte es das Drehbuch vorher nicht gegeben.