Unendlicher Spaß. Roman.
David Foster Wallace, Kiepenheuer & Witsch, August 2009
Barfuß auf den Mount Everest
Es gibt Bücher, die hat man einfach im gut sortierten Regal, dazu gehören z.B. der (meiner Meinung nach - auch in der gefeierten Wollenschläger-Übersetzung - so gut wie ungenießbare) "Ulysses" oder Musils gewaltiges, aber ebenso schwergängiges Fragment "Der Mann ohne Eigenschaften". Romane von monströsem Umfang, die einhellig als Meisterwerke bezeichnet und meines Erachtens nur von den wenigsten Besitzern, die keine hauptamtlichen Literaturkritiker sind, auch wirklich gelesen werden. Zuweilen versucht man es, vielleicht zum x-ten Mal, etwa an einem verregneten Herbstwochenende, und irgendwo gegen Ende des ersten Drittels fragt man sich dann, warum man sich das antut. Also zurück mit der Schwarte, aber an eine Stelle im Regal, die jeder Besucher sofort sieht.
Ulrich Blumenbachs sechsjähriger Übersetzungsarbeit ist es zu verdanken, dass da jetzt noch so ein Ziegel steht: "Unendlicher Spaß" suggeriert der Titel. Gleich vorweg sei angemerkt, dass es wirklich (jedenfalls meistens) ein großer Spaß ist, dieses Buch zu lesen. Und die fast vier Wochen, die ich dafür gebraucht habe, kamen mir auch nahezu unendlich vor. Die Frage, welches Buch ich zuvor gelesen habe, hätte ich nach spätestens zwei Wochen nicht mehr beantworten können. Es kam mir vor, als würde ich mich irgendwie schon immer durch Wallaces Opus Magnum fressen.
Tausendsechshundert Seiten, davon über zweihundert "Anmerkungen und Errata", die man sich übrigens durchaus antun sollte. Dünn bedrucktes Papier, hochwertige Ausstattung - ein zumindest äußerlich gefälliges Buch.
Nun, der Himalaya ist auch ein schönes Gebirge, wenn man es sich im Fernsehen anschaut oder mit dem Hubschrauber drumherum fliegt. Einen der Achttausender dann auch zu besteigen, das ist eine ganz andere Angelegenheit. Barfuß und ohne Sauerstoffgerät - das wäre ein passender Vergleich zur "Unendlicher Spaß"-Lektüre.
Schon der Einstieg macht es nicht leicht. Da sitzt ein offenbar hochintelligenter, aber anscheinend sprachgestörter Junge vor dem Aufnahmeausschuss einer Universität. Wir schreiben das "Jahr des Glad-Müllbeutels". Später, während der Haupthandlung, die im "Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche" spielt, erfahren wir, dass die Jahreszahlen inzwischen als Werbeplätze an Firmen vergeben werden, weil es Fernsehen im herkömmlichen Sinn und also auch Fernsehwerbung nicht mehr gibt. Das Geld wird dafür genutzt, die inzwischen als gewaltige Müllhalden umfunktionierten Neu-England-Staaten zu finanzieren, um die herum riesige Gebläse aufgestellt wurden, damit es im Rest des Landes nicht stinkt. Aber das ist nur ein Randaspekt.
Danach erlebt man mit, wie jemand auf eine Frau wartet, die ihm Drogen bringen soll - in einer erzählerischen Akribie, die ich so noch nie erlebt habe. Die ersten vierzig, fünfzig Seiten zeigen allerdings, was auf den Leser zukommen wird. Schwer, das in wenige Worte zu fassen. Fantastische Satzbauten, Unmengen von Fremdwörtern und Neologismen, schräge Abkürzungen, bildhafte, dichte, aber ausufernde Sprache, und all das immer verbunden mit dem Gefühl: So dürfte man eigentlich nicht erzählen, aber, heiliger Pfeffer, besser kann man es vermutlich nicht machen.Im Zentrum der Handlung stehen eine Tennisakademie namens E.T.A. und ein in unmittelbarer Nähe liegendes Haus für Drogensüchtige auf Entzug. Der junge Hal, Spross des E.T.A-Gründers und Filmemachers James Incandenza, der sich selbst getötet hat, indem er seinen Kopf in einen umgebauten Mikrowellenherd steckte, gehört zu den Ausnahmetalenten an der "Enfield Tennis Academy", und wie die meisten Tennistalente holt er sich das bisschen Wohlgefühl in der wenigen trainingsfreien Zeit über Drogen. Sein großer Bruder Orin, der wie Hal kaum zu Emotionen fähig ist, spielt als Punter für eine Baseballmannschaft. Der mittlere Bruder, den Hal "Troll" nennt, lebt als Faktotum an der Akademie. Mario ist schwer behindert und kann nur mit Hilfe eines Polizeischlosses stehen. Er hat quasi das Erbe des legendären Vaters angetreten, denn er läuft ständig mit einer "Bolex"-Filmkamera auf dem Schädel herum.
Ein anderes Erbe dieses Vaters ist ein Film mit dem Titel "Unendlicher Spaß". Von diesem sagenumwobenen Streifen gibt es zwar einige Kopien, aber viele Leute sind auf der Suche nach der Master-Patrone, darunter die A.F.R., eine kanadische Terroristenorganisation, deren Mitglieder allesamt an den Rollstuhl gefesselt sind. Wer diesen Film sieht, will nichts anderes mehr tun. Er versetzt den Zuschauer in einen Zustand, der alle Lebenserhaltungsreflexe abschaltet, bis man schließlich daran stirbt. Eine ideale Waffe also, zum Beispiel im Krieg gegen O.N.A.N., die Organisation, die aus den U.S.A. und Kanada hervorging.Der Versuch, die gewaltige Schar an Figuren, Schauplätzen, Handlungssträngen und Entwicklungen zusammenzufassen, muss scheitern, deshalb stoppe ich an dieser Stelle. Wenn es in diesem Buch um "etwas" geht, dann um Drogen im weitesten Sinne (und eben nicht nur chemische), Lust und Selbstverwirklichung. Das Gros des Personals ist entstellt, schlicht verrückt oder hat irgendein anderes Päckchen zu tragen. Wenigstens das, mit dem Leben klarzukommen.
Wenn man etwas an diesem unfassbaren Werk kritisieren wollen würde, dann höchstens die Tatsache, dass Wallace im Jahr 1996 eine Zukunft geschildert hat, die von unserer Gegenwart längst überholt wurde, was die technischen Aspekte anbetrifft. Es gibt bei ihm zwar hochauflösende "Teleputer", aber einige andere seiner Zukunftsskizzen technischer Art sind von Internet und DSL bereits dahingerafft oder übertroffen worden. Das gilt auch für die - leider nicht ganz unwesentlichen - "Unterhaltungspatronen", auf denen in "Unendlicher Spaß" Filme und Serien per Postversand zum Zuschauer kommen. Die Dystopie scheitert hieran jedoch nicht.
So, ich bin oben angekommen, die Füße sind blau und ich kriege kaum Luft, aber für diese Aussicht hat es sich gelohnt. Ein Buch wie dieses habe ich noch nie gelesen und werde es wahrscheinlich auch nie wieder tun, und zwar nicht aus einer Verweigerungshaltung heraus, sondern weil ich kaum glaube, dass dieser Wurf von irgendwem wiederholt werden kann. Manchmal schwergängig, häufig noch schwerer zu verstehen, zuweilen kryptisch, nicht selten herausfordernd, meistens hochintelligent, manchmal auch weit mehr als das, hin und wieder spröde, teilweise sogar abstoßend, grundsätzlich vielschichtig, jederzeit abwechslungsreich, oft sperrig, aber immer präzise und vollständig unvergleichbar. Ein Buch wie kein anderes, und zwar in jeder Hinsicht. Wahrhaft schön, und das gilt für jedes einzelne verdammte Wort.
Vielleicht komme ich nächstes Jahr wieder.