Night Train. Roman
Martin Amis, Fischer 2001

 

Der Mensch verfügt über ein inneres und ein äußeres Sein, und es wird niemandem, absolut *niemandem*, jemals gelingen, das innere Sein irgendeines Menschen vollkommen zu verstehen, zu durchdringen. Das ist alleine aus zeittechnischen Gründen nicht möglich - das Sein wird definiert über jede Nanosekunde seiner Existenz und ändert sich fortwährend. Weil es das aber in jedem Menschen tut, kann niemand die notwendige Zeit opfern, einen anderen zu durchdringen.

Anders gesagt: _Jeder_ Mensch ist ein Geheimnis. Auch dann, wenn es - wie im Fall der bezaubernden Jennifer Rockwell - keines zu geben scheint, sondern "lediglich" Perfektion, Vollkommenheit, maßloses Glück. Jennifer ist immer heiter, wunderschön, erfolgreich, lebt in einer harmonischen Beziehung, in der es, wenn es mal schlecht läuft, nur zwei Ficks gibt. Am Tag. Und das im siebten Jahr.

Doch Jennifer stirbt, wird tot aufgefunden, nackt, mit drei Kugeln im Kopf, die Waffe in der Hand. Alle Zeichen stehen auf Selbstmord, übrigens auch die *drei* Kugeln, wie einschlägige Statistiken beweisen, aber Papa Colonel - nicht Major - Tom glaubt dies nicht, und setzt Mike Hoolihan auf die Sache an. Mike ist "Polizei", ein Underdog, aber engagiert, belesen, bewandert im Gebiet "Suizid", ehemals schwer alkoholkrank. Mike ist eine häßliche junge Frau, und Jennifer empfand eine Art mitleidsvolle Freundschaft für sie.

Martin Amis erzählt die Suche nach den Gründen, nach einer Erklärung aus der Sicht des Detectives, der Frau, die schwankt, glaubt, analysiert, reflektiert, blendet, blufft, hinterfragt. Was sich wie der Plot eines herkömmlichen Kriminalromans anhört, ist tatsächlich das subtil, tragikomisch und in perfekter Diktion erzählte Psychogramm einer Polizistin, die erkennt, wie nahe sich Menschen sein können, obwohl sie sich extrem weit "auseinander" befinden.

Amis macht aber noch viel mehr als das. Er bricht mit allen Opfer-Motiv-Täter-Formeln, hebelt den gängigen Glauben an erkennbare Gründe für Handlungsmuster völlig aus, untergräbt das Fundament klassischer Kriminalromane und -serien vollständig und überaus nachvollziehbar. Dabei ist er weniger witzig, als in "Gier", "1999" (London Fields) oder "Information", zwingt und überzeugt jedoch vor allem durch die fantastisch angelegte und nachvollziehbare Hauptfigur, der er eine Erzählweise in den Mund legt, der ich so oder ähnlich noch nie begegnet bin.

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©2001 Tom Liehr - http://www.tom-liehr.de - Kontakt