Tender Bar.
Roman.
J. R. Moehringer, Fischer, April 2008



Das Buch nennt sich "Roman", aber das ist ein Etikettenschwindel - tatsächlich handelt es sich um Memoiren. Der amerikanische Journalist J. R. Moehringer erzählt seine eigene Lebensgeschichte, in deren Mittelpunkt die Bar "Dickens" steht, die später "Publicans" heißt. Diese Bar befindet sich in Manhasset, einer Kleinstadt auf Long Island, bekannt geworden durch Fitzgeralds "Der große Gatsby".
JR - ohne Punkte - wächst ohne Vater auf. Dieser, ein Radiodiscjockey, hat die Mutter missbraucht und geschlagen, weshalb es früh zur Scheidung kam. Deshalb kennt der kleine JR seinen Erzeuger nur aus dem Radio, aber er muss ständig die Frequenz suchen, da der ruhelose Vater, "die Stimme", selten länger als ein paar Wochen für einen Sender arbeitet. JR begegnet diesem Vater nur ein paar Male, weshalb andere Männer zu Ersatzvätern werden, allen voran Onkel Charlie, Barkeeper im besagten "Dickens", sowie dessen Kumpels.
"Tender Bar" beginnt einfühlsam, erzählt von der Kindheit und vom Erwachsenwerden, von männlichen Leitfiguren, von der starken Mutter, vom Leben in der Kleinstadt, in der Alkohol fließt wie in keiner anderen, und von der Bar, deren Stammgast JR wird, als er das einundzwanzigste Lebensjahr beendet. JR schafft es, für Yale zugelassen zu werden, obwohl die Mutter arm ist und ihre Nächte mit dem Taschenrechner in der Hand am Küchentisch verbringt, was nicht selten zur Konsequenz hat, dass die beiden in das "Scheißhaus" des Opas zurückkehren müssen, eine baufällige Villa nicht weit vom "Dickens" entfernt. Während seiner Universitätszeit verliebt sich JR unsterblich, aber die Angebetete ist eine Nummer zu groß für den mittellosen Kleinstädter. Später wird er Volontär bei der angesehenen "New York Times", sitzt aber längst viel lieber am Tresen der Bar als irgendwo sonst. Die Figuren, die sich dort treffen, beherrschen jetzt das Buch. Ab diesem Zeitpunkt verliert die Geschichte. JR befindet sich auf dem Weg zum Alkoholiker und scheitert bei der "Times", führt endlose Gespräche am Tresen und arbeitet an einem Roman über das "Dickens/Publicans", während man sich als Leser immer häufiger fragt, was daran interessant sein soll.
Moehringer versucht, die Bar zum Dreh- und Angelpunkt seines "Romans" zu machen, worauf er einleitend fast eindringlich hinweist, aber genau dieser Umstand lässt das Buch im zweiten Teil scheitern. Tatsächlich kann man sogar miterleben, warum das so ist, denn der Autor erläutert ausführlich, wie viele Anläufe JR (also er selbst) benötigt, um den Roman über die Bar zu schreiben, skizziert sogar alle Entwürfe, von denen man den letzten schließlich im Moment des Lesens in den Händen hält. All das funktioniert nicht mehr, weil eine Bar doch nur eine Bar ist, ein Ort, an dem sich Leute betrinken, und nicht der Nabel der Welt, wie uns Moehringer weiszumachen versucht. Zudem ist dessen spätere Biographie nicht wirklich interessant genug, um einen Roman, der keiner ist, zu tragen. Es sollte eine Liebeserklärung werden, aber das ganze ist nach einem wirklich guten Start auf der Hälfte verreckt, wie ein Glas Scotch, das der Barkeeper elegant einem Gast entgegenschieben wollte, ohne ausreichend Schwung gegeben zu haben.

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