Das Streichelinstitut. Roman.
Clemens Berger, Wallstein 2010
Der glückliche Mensch
Was für ein seltsames, im Wortsinn bemerkenswertes Buch.
Sebastian ist Mittdreißiger, Wiener, eigentlich kurz vor der Promotion (die Fakultät wird allerdings nicht genannt, vermutlich Politologie oder ähnliches), gutaussehend und Kommunist, wenn sich denn in ein Wort pressen lässt, was im Kopf des nicht mehr ganz jungen Mannes vor sich geht. In gewisser Weise hadert er mit allem - mit der Stadt (eigentlich: der Welt), in der er lebt, mit der Frau, die er liebt (der schlauen Dozentin Anna), mit ehemaligen Beziehungen, gar mit seinen wenigen Freunden, vor allem aber mit der Tatsache, dass Entscheidungen anstehen, obwohl Sebastian keine zu fällen bereit ist. Letztlich auch, um sich aus dieser Situation ein wenig herauszumogeln, gründet er, einer Idee Annas folgend, das "Streichelinstitut", eine Serviceeinrichtung, in der sich die Wiener seinen sanften, fast magischen Händen hingeben, um den Alltag vergessen oder angenehmer bewältigen zu können. Das Institut, mitten in Neubau, der Eso-Gegend Wiens, wird schnell erfolgreich. Ob es Ministerialbeamte sind, die sich im Zwei-Wochen-Turnus die verkorksten Beziehungen zu ihren Vätern wegstreicheln lassen, oder elegante, reiche Mittvierzigerinnen, die bei dieser Gelegenheit mit ihrer verblühenden sexuellen Attraktivität kokettieren - Sebastian, der sich den Künstlernamen Severin Horvath gibt, streichelt sie alle. Fünfundvierzig Minuten für fünfundsiebzig Euro. Doch es ist weder einfach, die Seiten zu wechseln, also linkes Denken und rechtes Leben unter einen Hut zu bringen, noch lässt sich der im Wortsinn sehr nahe gehende Beruf vom privaten Dasein trennen. Überhaupt wird erst einmal offenbar, dass Leben nicht immer dasselbe ist.
Es ist nicht leicht, dieses besondere Buch in wenigen Worten zu würdigen. Zuweilen liest es sich wie eine Autobiographie, wie eine Bestandsaufnahme - Rückbesinnung und Ausblick zugleich. Andererseits gibt es Elemente des klassischen Entwicklungsromans, ein Füllhorn voller Konflikte, und viele erhellende Informationen über das Wien des einundzwanzigsten Jahrhunderts - von dem sich der Held übrigens an einer wunderbaren Stelle im Buch wünscht, es gäbe eine gespiegelte, zweite Version der Stadt, aber eine, in der nicht alles schiefgelaufen ist.
Die Katharsis des Protagonisten wird durch Frau Dr. Irene Fischer verkörpert, die schöne, wohlhabende und selbstbewusste Frau, die zuerst die Grundregel Nummer des Streichelinstituts - kein Sex - torpediert, dann in Sebastians fragile Beziehung zu Anna eindringt, um schließlich den allmählich ermüdenden, aber nach wie vor extrem erfolgreichen Berufsstreichler mit den Reizen des Kapitalismus' zu konfrontieren.
"Das Streichelinstitut" ist aber kein politisches Buch, jedenfalls nicht nur oder in der Hauptsache, sondern auch eine Liebesgeschichte, eine Milieustudie - und ein sehr persönlicher (nicht im Sinne von "autobiografisch"!) Roman über einen jungen Mann, dessen Optionen und Wünsche nicht in Deckung zu bringen sind. Über jemanden, der sich Gedanken macht, hin und wieder auch zu viele, und der damit zeigt, wie ungut es ist, sich nur mit den verfügbaren Alternativen abzufinden. Denn es ist so, wie es das Bild zeigt, das im Streichelinstitut hängt: Der glückliche Mensch kann glücklich vermutlich nur ganz alleine sein, und das will letztlich auch niemand, und Sebastian/Severin schon gar nicht.
Mein Lieblingssatz ist ein sehr kurzer: "Während ich." Besser kann man einen tiefgehenden Konflikt nicht in Worte fassen.