Die Stadt der Blinden. Roman.
Jose Saramago, Rowohlt 1999


Das Ende der Menschlichkeit

Ein Autofahrer erblindet plötzlich, während er an der Ampel auf grün wartet. Es ist kein "normales" Erblinden; der Mann sieht weiß, nur noch weiß, mit geöffneten wie geschlossenen Augen. Ein anderer Mann, der ihm hilft, seine Wohnung zu finden, klaut ihm danach das Auto, aber auch dieser Mann verliert seine Sehkraft, wie der Augenarzt, den der "erste Blinde" aufsucht, und es folgen andere.
Die Regierung ergreift schnell drastische Schritte; die ersten sechs Blinden und alle Menschen, die mit ihnen Kontakt hatten, werden interniert, in ein ehemaliges Irrenhaus verbracht, im rechten Flügel die Blinden, im linken die vermeintlich Infizierten. Um weitere Infektionen zu vermeiden, beschränkt man sich darauf, den "Kranken" Essen in Kisten bereitzustellen. Sonstige Hilfe gewährt man ihnen nicht. Wie sie sich im Irrenhaus organisieren, das bleibt ihnen überlassen, und man gibt ihnen nichts als das Essen - keine Medikamente, keine Informationen, und man wird nicht einmal ihre Leichen abtransportieren.

Rasch kommen weitere Blinde hinzu, und ebenso rasch eskaliert die Situation. Bald sind es mehrere hundert, die Essensausgabe gerät zum Drama, verunsicherte Wachsoldaten erschießen einige Insassen, die orientierungslos herumirren, die Gänge des Irrenhauses werden als Aborte genutzt, und schließlich ergreift eine Gruppe von Dieben die Initiative, reißt die Nahrungsversorgung an sich und erpreßt die anderen Blinden - zuerst um deren Wertsachen, dann um ihre Frauen. Währenddessen greift die Erblindung "draußen" mehr und mehr um sich …

Die Frau des Augenarztes, der vom "ersten Blinden" aufgesucht wird, ist als einziger Mensch vom Verlust der Sehkraft verschont geblieben, aber das weiß nur ihr Mann, den sie ins Irrenhaus begleitet hat. Sie hilft den Internierten heimlich, wo sie kann, aber sie fühlt die Blindheit auf gewisse Art noch viel stärker, weil sie all das sehen muß, was die Menschen in ihrer Hilflosigkeit und existentiellen Angst miteinander tun.

Diese apokalyptische Parabel liest sich anfangs recht sperrig, weil Saramago keinerlei Namen gebraucht, Sätze einfach aneinanderreiht, Dialoge nicht von Handlung trennt, und zuweilen philosophierend eingreift, aber das Buch vereinnahmt dann rasch, so rasch, daß man es kaum spürt und die vermeintlichen stilistischen Widrigkeiten schnell vergißt, sogar zu genießen beginnt. Das Szenario ist enorm dicht, beängstigend und spannend, von hoher Detaildichte und Glaubwürdigkeit. Vergleichbar mit Camus' "Die Pest" stellt der Literaturnobelpreisträger die Frage, wie weit Menschen zu gehen bereit sind, wenn die sozialen Strukturen zerbrechen, und die Antwort lautet: Beliebig weit.

Ein faszinierendes, beängstigendes, sehr eindringliches Buch, dessen erklärungsarmes Ende den Eindruck kaum schmälert.

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