Die Stadt der Sehenden. Roman.
José Saramago, Rowohlt, Reinbek 2006
Die Titelähnlichkeit zum grandiosen "Die Stadt der Blinden" ist nicht nur Marketingtrick. Wie im "Vorgänger" skizziert Saramago eine Grenzsituation, beobachtet seine - namenlosen und häufig nur angedeuteten - Figuren bei ihren Aktionen und Reaktionen. Allerdings gibt es erhebliche, entscheidende Unterschiede.
In der Hauptstadt des - ebenfalls namenlosen - Landes kommt es bei Kommunalwahlen zum Eklat: Erst geht niemand hin, und dann, als sich um Punkt 16:00 Uhr doch noch die Wahllokale füllen, wählen die Bürger nicht richtig. Bei der Auszählung stellt sich heraus, daß die meisten leere ("weiße") Stimmzettel abgegeben haben. Die rasch angesetzte Wiederholung der Wahl zeitigt das gleiche Ergebnis. Kurzerhand ruft die Regierung, beherrscht von der PDR, der Partei der Rechten (das Dreiparteiensystem besteht aus der PDR, der Partei der Mitte und der Partei der Linken), den Notstand aus. In der Folge eskaliert die Situation, es kommt zu Bespitzelung, Folter, Mord und vielem mehr.
Mit Verlaub, dieser Roman ist bestenfalls geeignet, das Ansehen des Literaturnobelpreisträgers zu verschlechtern. Von fast schon lächerlicher Naivität gekennzeichnet und mit vielen inhaltlichen Fehlern durchsetzt, bietet das zähe, mühselig erzählte und weitgehend unspannende Buch weder ein Aha-Erlebnis, noch, wie das "Die Stadt der Blinden" tat, eine nachvollziehbare, tatsächlich ängstigende Ausgangssituation. Saramagos fiktiver Staat mit seiner klischeehaften Besetzung der Machtpositionen entspricht einem Gesellschaftsentwurf, der in dieser Form kaum auf reale Verhältnisse adaptierbar ist. Das Buch liest sich wie der Angsttraum eines sehr naiven Linken. Und Saramagos Stil, der in "Die Stadt der Blinden" noch geeignet war, die überaus deprimierende, aber zwingende Handlungsfolge zu transportieren, nervt hier nur. Zudem gibt es viele, zu viele Parallelen, aber das Was-wäre-wenn-Szenario in "Die Stadt der Sehenden" hätte bestenfalls für eine Kurzgeschichte ausgereicht.
Jedenfalls mußte ich beim Lesen ständig gegen die Ermüdung ankämpfen.