Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman.
Christian Kracht, KiWi 2008


kracht

Der sperrige "Popliterat" Kracht, der kein Popliterat (mehr?) sein will und seine drei Romane "Faserland", "1979" sowie das vorliegende Buch als "Tryptichon" bezeichnet, hat für den Titel eine Textzeile aus dem britischen Volkslied "Danny Boy" gewählt. Um dieses Stück, das vom Abschied handelt, ranken sich viele Geschichten, man ist aber einhellig der Meinung, es ginge um den Auszug in den Krieg.

Krieg herrscht auch in dieser veränderten Zukunft unserer eigenen Vergangenheit, von der Kracht in "Ich werde hier sein" erzählt. Der vermutlich Erste Weltkrieg hat keinesfalls geendet, sondern währt seit nunmehr fast hundert Jahren, so dass es niemanden mehr gibt, der den Frieden noch kennt. Die Schweiz hat Afrika erobert und viele Afrikaner zu Eidgenossen umfunktioniert, einer davon ist der Held und Ich-Erzähler dieser Geschichte. In der Schweizerischen Sowjetrepublik, die entstehen konnte, weil Lenin das Exil 1917 nicht verlassen hat (Russland demgegenüber ist verstrahlt und unbewohnbar), besetzt er das Amt eines Parteikommissärs. Als der vermeintliche Systemgegner Brazhinsky die trübselige Gegend um Neu-Bern verlässt, nimmt der Kommissär die Verfolgung auf. Sie endet im "Réduit", dem gewaltigen Höhlensystem, das die Eidgenossen in das Massiv der Alpen gegraben haben, und das sich längst in ein Refugium für die restliche Intelligenz des Landes verwandelt hat, die auf steinernen Balkonen steht und das Kriegsgeschehen verfolgt. In dieser Utopie haben die allermeisten Menschen das Lesen verlernt, der Krieg hält die Blöcke (Hauptgegner ist das faschistische Deutschland) in einem depressiven Zustand der geistigen Stagnation. Technologische Entwicklungen hat es offenbar seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gegeben, man schießt mit Karabinern, reist reitend und wirft Bomben aus Luftschiffen ab.

Nicht jeder Querverweis oder Gedankengang in diesem kurzen Roman ist leichthin (wenn überhaupt) verstehbar, und auch die an zwei Stellen genannten "Steckdosen", die einige Menschen im Bereich der Achselhöhle tragen, bleiben mysteriös und wirken auf exemplarische Art befremdlich. Dies gilt auch für das kryptische Ende, als der Held die Schweiz verlässt und auf seinem Weg zurück nach Afrika beispielsweise steinernen Schiffen begegnet, die irgendwo in Norditalien mitten in der Landschaft stehen. Aber um Verständnis wirbt Kracht auch nicht. Diese originell und vortrefflich erzählte Endzeitgeschichte öffnet sich vollständig vermutlich nur für Beteiligte - und das wiederum ist eine Rekursion ohne Lösung, ohne Abbruchbedingung. Man müsste schon Kracht sein - oder eben jener Kommissär.

Im eigenen Kontext allerdings funktioniert "Ich werde hier sein" durchaus. Wer aber klare Vorgaben, in ihrer Konsequenz verständliche Andeutungen und Gedanken, einzuordnende Bezüge und Aufklärung der Zusammenhänge sucht, wird an diesem Buch keine Freude haben. Denn es spielt nicht in irgendeiner Zukunft, sondern in einer anderen Welt - auch literarisch. Ganze Kohorten von Feuilletonisten rätseln herum und bleiben wage - möglicherweise, um sich nicht lächerlich zu machen.

Es mag an Selbsttäuschung grenzen, aber ich habe die Lektüre dieses Buchs sehr genossen, wenn es mir auch nicht gelang, es jederzeit zu deuten. Was normalerweise Frustration auslösen würde, hat bei diesem Buch eine andere, bemerkenswerte Wirkung gehabt: Es endete nicht mit der Beendigung der Lektüre. Wenn man nämlich all die Fragen ausblendet, die sich aufdrängen, und sich hingibt, offenbart sich eine sperrige Schönheit, und Schönheit muss man nicht erklären können.

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