Sommer Ende Zwanzig. Roman.
Claudio Paglieri, Aufbau TB 2002


Anfang der Neunziger machen vier Freunde einen Interrail-Trip durch Europa: Robi, der so gut aussieht, daß er Frauen abwehren muß, Mario, genannt "die Zecke", der durch klammernde Beharrlichkeit Punkte auf der Abschleppskala (5 Punkte: Zungenkuß, 25 Punkte: Oralsex, 50 Punkte: Das ganze Programm) sammelt, Matteo, genannt "der kleine Teo", der Robi bewundert und nachahmt. Und schließlich Stefano, der feingeistige, introvertierte Ich-Erzähler, der eine riesige Nase hat und im entscheidenden Moment jedes Date in die Katastrophe führt. Die Reise führt sie durch das saubere Stockholm, wo zwar alle Frauen wie Engel aussehen, aber nichts von ihnen wissen wollen, sie werden in Barcelona ausgeraubt, feiern in Budapest, ohne zu ahnen, daß all die gutaussehenden Mädchen Geld oder Geschenke von ihnen haben wollen, durchsumpfen die Nächte im spanischen Hippiedorf, drängeln sich in dreckigen, quälend langsamen, hoffnungslos überfüllten Zügen auf dem Weg zum schwarzen Meer, erleben Paris, wie man Paris eben erlebt: Atemlos und staunend. Es ist der Trip ihres Lebens, sie streiten sich, sie freuen sich gemeinsam.
Aber diese Reise wird auch das Ende ihrer Freundschaft markieren; eine Ahnung dieses Umstandes läßt sie an der spanischen Küste eine Flasche Whiskey vergraben, so ähnlich, wie im Film "Fandango" (den sie lieben, vor allem Stefano) -
und sie geben sich das Versprechen, neun Jahre später zurückzukehren, an dem Tag, an dem Stefano dreißig werden wird, als erster von ihnen.

In einer Parallelhandlung, die in der Jetztzeit spielt, in den Wochen vor Stefanos dreißigstem Geburtstag, erzählt er davon, wie er zwei Jahre zuvor in die Totalverweigerung emigrierte: Stefano hörte auf, zu reden, vergrub sich in der Wohnung, gab Job, Freundin, soziale Kontakte auf. Es gab keinen mittelbaren Anlaß, wohl aber Gründe: Stefano spürte, daß ihn das Leben in eine Richtung gedrängt hatte, die immer weniger mit dem Träumen und Wünschen zu tun hatte, die ihm als Jugendlicher durch den Kopf gingen. Beim letzten Treffen mit seinen drei Reisegefährten, zwei Jahre zuvor, mußte er feststellen, daß es ihnen ganz ähnlich ergangen ist - im Gegensatz zu ihm wollen sie es allerdings nicht wahrheben, und so wird seine Eremitage auch zur Stellvertreterhandlung für seine verlorenen Freunde.

"Sommer Ende Zwanzig" ist also kein Buch, das im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts angesiedelt ist, sondern ein sehr einfühlsamer, warmherziger Gegenwartsroman über das Ende der Jugend, über Freundschaft und das Kleinerwerden der großen Träume und Gefühle. Gelegentlich wirken die Reisebeschreibungen etwas zu klischeehaft, ansonsten aber erzählt Paglieri dicht,
gefühlvoll, salopp und sehr vereinnahmend. Ein schönes, sehr melancholisches Buch.

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