Solar. Roman.
Ian McEwan, Diogenes
2010

Solar

Antiheld

Michael Beard ist alles andere als attraktiv. Er ist dick und klein, neigt zur Fresssucht und zum gepflegten Alkoholismus. Aber Michael Beard ist auch Doktor der Physik und Träger des Nobelpreises in dieser Disziplin. Irgendwann in den Sechzigern hatte er seinen genialen Moment, in den Siebzigern folgte die Ehrung durch die Stockholmer Akademie - und danach setzte die Stagnation ein: Michael Beard hatte keine Ideen mehr, stattdessen absolvierte er fünf Ehen und Dutzende Affären. Im Jahr 2000, in dem der erste Teil des Romans spielt, steht die fünfte Scheidung an, und seltsamerweise fühlt sich Beard plötzlich zu seiner zukünftigen Ex-Ehefrau hingezogen. Aber da ist noch Rodney Tarpin, der geistig etwas verlangsamte Bauhandwerker, mit dem Patrice, Beards Gattin, ein ganz offenes Techtelmechtel hat, nicht zuletzt, um sich an ihrem Ehemann zu rächen.

Beard hat im Rahmen seiner beruflichen Herumwurstelei - wie so oft eher halbherzig - das Angebot angenommen, ein Institut für erneuerbare Energien zu leiten, und obwohl ihm der zwar nervige, aber offenbar recht geniale Institutsmitarbeiter Tom Aldous immer wieder Vorschläge unterbreitet, die sich mit der Photosynthese befassen, steuert Beard den Laden in ein vollkommen absurdes Projekt, bei dem es um Mini-Windmühlen für Hausdächer geht. Anschließend reist er für eine Woche zum Nordpol, um mit Künstlern den Klimawandel zu diskutieren, wenn ihm auch die Rettung des Klimas und des Planeten vollständig egal ist - Beard ist Narzisst, Egoist, wird ganz und gar von Eigeninteressen beherrscht. Bei seiner verfrühten Rückkehr stößt er auf Aldous, der in Beards Bademantel in dessen Wohnzimmer herumlungert. Es kommt zu einem kurzen Streit, bei dem Aldous stolpert und unglücklich - tödlich - fällt. Michael Beard arrangiert die Szene so um, dass es wie ein Mord aussieht - ein Mord an einem Nebenbuhler, ausgeführt durch den anderen. Der ahnungslose Rodney Tarpin wird verurteilt. Und ganz nebenbei findet sich in Aldous' Nachlass noch eine absolut geniale Idee, die durchaus geeignet ist, das Energieproblem der Menschheit zu lösen.

Fünf Jahre später hat sich der Saulus zum Paulus gewandelt, jedenfalls nach außen. Beard verfolgt das Projekt, von dem niemand ahnt, dass es auf Aldous' Ideen basiert, mit großer Verve - und inzwischen in Eigenregie. Er jettet von Vortrag zu Vortrag, um Investoren zu begeistern und für die Rettung des Weltklimas zu kämpfen, aber eigentlich geht es ihm nur um Geld und den eigenen Ruhm. Seine aktuelle Freundin kämpft parallel darum, aus Beard einen Ehemann und Vater zu machen, aber je älter der Nobelpreisträger wird, umso selbstsüchtiger, infantiler wird er in dieser Hinsicht. Und natürlich betrügt er auch diese Frau.

Der Roman endet im Jahr 2009, also praktisch in der Jetztzeit. Michael Beard steht kurz davor, seinen vermeintlichen Lebenstraum zu verwirklichen, aber die Vergangenheit war nicht untätig - und holt ihn rechtzeitig ein.

McEwan erzählt diesen Schelmenroman im Plauderton, aber McEwan wäre nicht McEwan, wenn dies niveaulos geschähe. Wissensreich, extrem intelligent, amüsant-schwarzhumorig und hochironisch skizziert er seine Hauptfigur, diesen langzeitpubertären, egomanen und misanthropen Schlaumeier, der ein großartiger Rhetoriker ist und stets seinen Vorteil zu erkennen weiß, aber leider nie dazu in der Lage ist, den Punkt zu auszumachen, an dem ein Kompromiss - auch im Eigeninteresse - geboten wäre. Lange scheint es so, als würde dieser Michael Beard mit seiner Strategie und seiner egozentrischen Weltsicht die Nase vorn behalten, und am Ende wünscht man sich fast, dass es konsequenterweise auch bis zur letzten Seite so bliebe. Zwischendrin hat das Buch einige Längen, kippt - etwa, als Beards Glied beim Pinkeln im ewigen Eis am Kälteschutzanzug festfriert - manchmal in Slapstick um, unterhält aber meistens vortrefflich. Als Dreingabe wird der geneigte Leser über den aktuellen Stand der Klimaforschung, über physikalische Vorgänge und Gesetzmäßigkeiten und die Funktionsweise des "Fund Raisings" informiert.

Aber es bleibt das Problem, das alle Romane mit Antihelden haben: Obwohl man sich hin und wieder dabei ertappt, den äußerst egoistischen inneren Monologen der Hauptfigur zuzustimmen, verweigert sich der Protagonist meistens der Identifikation, obwohl - oder gerade weil - der intelligente Menschenfeind so glaubhaft dargestellt wird. Mit Verblüffung nimmt man zur Kenntnis, dass auch sehr gebildete, gar nobelpreiswürdige Menschen möglicherweise keine besonders guten sind, wobei wissenschaftskritische Aspekte ohnehin eine wesentliche Rolle im Buch spielen; die Demontage der Laborgötter ist eines der (vielen) Themen. Doch das reicht nicht, um dieses schlaue Psychogramm auf einen vorderen Platz zu hieven. "Solar" ist zweifelsohne klug, augenzwinkernd, zuweilen beeindruckend, unterhaltsam und auf seine Art stimmig, aber es bleibt das Gefühl, einen Roman gelesen zu haben, dem etwas Wesentliches fehlt. Menschlichkeit ist es nicht, denn Michael Beard ist zutiefst menschlich im Wortsinn. Vielleicht aber ist es genau das: Die Art von Menschlichkeit, die meistens nur von Romanen transportiert wird. "Solar" ist, wenn man so will, zutiefst deprimierend, aber das auf rasante und wirklich gut erzählte Weise.

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