Die Entführung des Serails.
Roman.
Thomas R. P. Mielke, Rowohlt 1998, Schneekluth 1996 (HC)



Der etwas krude und sicherlich nicht gerade extrem verkaufsfördernde Titel des Buches hatte mich eigentlich in Versuchung geführt, *doch* etwas anderes zu kaufen. Ich habe dann einfach zusätzlich ein anderes Buch gekauft (Rückfahrt!). 2134 a.d. - eine Klimakatastrophe hat die Erde heimgesucht, und gleichzeitig hat sich das Magnetfeld verabschiedet. Vor über hundert Jahren sind deshalb die Menschen in eine gigantische, weltumspannende Röhre umgezogen, das "Kontinuum Eckert", benannt nach einem bayerischen Architekten, der bereits Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Pläne für ein solches Projekt vorgelegt hatte. Fortan frönen die Menschen dort etwas, das sich verwirrenderweise "Wohlseyn" nennt (eigentlich sagt man das, wenn jemand geniest hat, oder? ), geben sich künstlich erzeugten Rausch- und Wahrnehmungszuständen hin, vegetieren teilweise in einer Welt der ausschließlich indirekten Rezeption, des Zweite-Hand-Gefühls. Einige, nicht wenige, haben sich völlig der menschlichen Interaktion verschlossen. Andere setzen enorme Energie in den Versuch, herauszufinden, was gleichzeitig unten auf der Erde geschieht, denn die Erde ist für die Kontinuum-Bewohner tabu. Denn auch dort leben noch Menschen, einige wenige, ein gemischter Haufen aus Umweltschützern, Existentialisten, Philosophen, Wissenschaftlern, Jägern und Sammlern.

An der Südküste des ehemaligen Britanniens (ein wenig ins Landesinnere verschoben durch die Anhebung des Meeresspiegels) wird das Gut Glyndemourne alljährlich zum letzten kulturellen Zentrum: Sämtliche, weitestgehend autark lebenden Gruppierungen finden sich ein, wenn eine Oper aufgeführt wird, zu der sich alle Besucher zeitgenössisch kleiden - einem Trieb folgend, der nur wenigen wirklich erklärlich ist, denn die Menschen leiden aufgrund des Fehlens des Erdmagnetfeldes an partieller Amnesie.

Doch in diesem Jahr ist alles anders. Natürlich, sonst würde der Roman ja nicht zu dieser Zeit spielen. Die "Kontinuum"-Bewohner scheinen die Aufführung der "Entführung aus dem Serail" selbst entführen zu wollen, um sich reale Eindrücke gönnen zu können. Aber das ist längst nicht alles.

Mielkes Buch ist sehr ungewöhnlich, *seltsam*, möchte man meinen. Eine bunte, sehr eindringlich vermittelte Schar von Figuren bringt das Geschehen und die zugrundeliegenden Informationen nahe, die allerdings gelegentlich etwas ermüdend-narrativ in längeren Passagen abgehandelt werden. Für den klassischen SF- Leser ist "Die Entführung" ein echter Kulturschock, aber gleichzeitig ein spritziges, leicht satirisches, überaus amüsantes Buch über wissenschaftsphilosophische Ansätze, Kulturhistorie, Technik und - natürlich - die Liebe. Der Klimax des Buches wird allerdings zu einem leicht verwirrenden Knäuel aus zusammengeführten Handlungsfäden, in dem ein Zurechtfinden nicht gerade einfach ist.

Sehr lesbar, sehr originell - richtig gestört hat mich nur die Kursivsetzung fast aller Ortsbezeichnungen und Eigennamen. Ich werde mir auf jeden Fall noch das eine oder andere Buch des umtriebigen sechzigjährigen Berliners 'reinziehen'.

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©Tom Liehr - http://www.tom-liehr.de - Kontakt