Der Schwarm. Roman.
Frank Schätzing, Kiepenheuer & Witsch 2004


Sie sind unter uns.
Im wahrsten Sinne des Wortes.

Vor Vancouver Island drehen die Wale durch und greifen Boote an, gigantische Quallenschwärme attackieren die südamerikanische Küste, mutierte Würmer nagen am vereisten Methan im Schelf vor Norwegen. Hummer explodieren, bevor sie in den Kochtopf kommen, und setzen fiese Killeralgen frei, die über die Kanalisation ins Trinkwasser gelangen. Armeen von blinden Krabben entern New York. Schiffe verschwinden, andere werden manövrierunfähig, weil sich Millionen Muscheln am Ruder festsetzen - mitten auf hoher See. Das Meer dreht durch - oder dreht jemand am Meer?

Frank Schätzing erzählt einen monströsen Endzeitthriller der besonderen Art. Was mit scheinbar unbedeutenden Einzelfällen beginnt, wächst sich zur globalen Bedrohung aus, zu einer, die, wenn sie niemand stopt, zur Vernichtung der Menschheit führen würde. Wissenschaftler auf der ganzen Welt - jedenfalls der für uns wahrnehmbaren Welt - rätseln um Ursachen und Zusammenhänge. Auf Ölbohrplattformen und Forschungsschiffen, in Whale-Watching-Stationen, Instituten und Aquarien kämpft eine handvoll schlauer Köpfe um die Lösung. Doch das Hauptproblem besteht darin, den Zusammenhang zu finden, denn an einen Zufall will niemand mehr glauben. Es sind die Amerikaner, natürlich, die die Kräfte vereinen und eine Art "All-Star-Team" der Meeresforschung schaffen, das die Bedrohung abwenden soll. Doch die Amis haben Nebeninteressen: Die Rettung der Welt ist nicht ihr einziges Ziel.

Dem Buch liegt enorme Recherche zugrunde - von Genetik über Geologie bis hin zur Meeresbiologie werden alle Bereiche abgedeckt, nebenbei auch noch Informatik, Satellitentechnik und Außerirdischenforschung, alles wird ausführlich erklärt und anschaulich erläutert, vorzugsweise inmitten der Handlung, so, wie es sein sollte. Die Besetzung wirkt teils ein wenig stereotyp, die Konflikte jenseits des eigentlichen Horrorszenarios bleiben etwas flach und gelegentlich klischeehaft, aber das macht fast nichts, denn das dicke, dicke Buch ist überaus spannend und sehr leidenschaftlich erzählt; der erhobene Öko-Finger ist gut kaschiert, die Botschaft kommt auch ohne Holzhammer an: Wir sind es, die die Erde zerstören - Ökologie ist auch nur ein Modewort, ein Euphemismus, das Pflaster, das wir auf die gigantischen Wunden des Systems zu kleben versuchen. Durch die sehr detailverliebt erläuterten Zusammenhänge, die Einblicke in ein Ökosystem, über das wir weniger wissen, als über das Weltall, entsteht ein Bild von der Erde, das mehr Rätsel aufgibt, als es löst. Daß etwas weniger nachlässiger Umgang mit diesem System eigentlich opportun wäre, ist eine tautologische Feststellung - derer es nichtsdestotrotz zu bedürfen scheint.

Schätzing führt konsequent durch eine Vielzahl von Nebensträngen, die sich auf erstaunliche Weise verbinden. Das Buch ist sehr klassisch erzählt, verzichtet auf ambitionierten Schnickschnack, bleibt sich über die fast tausend Seiten treu: Ein fulminanter Thriller, bei dessen Lektüre man wirklich was lernen kann. Unglaublich, daß diese Schwarte von jemandem stammt, dessen Vorkenntnisse zum Sujet gerade mal auf Hobbytaucherei fußen. Allein die Rechercheleistung wäre fünf Sterne wert. Gut, das Buch hätte auf sechs-, siebenhundert Seiten gestrafft werden können, es mag höchsten literarischen Ansprüchen nicht genügen, aber es ist spannend, originell und so eindringlich erzählt, daß die wenigen möglichen Kritikpunkte wie ein Wassertropfen im Meer verschwinden.


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