Der zweite Schöpfer. Roman.
Michael Marshall, Droemer/Knaur 2007
Ich bin ein großer Fan der SF-Romane, die Michael Marshall noch unter Verwendung des Nachnamenszusatzes "Smith" geschrieben hat, und die leider mit wirklich unseligen deutschen Titeln veröffentlicht wurden. Weil die Umbenennung irgendwie an mir vorbeiging, wusste ich lange nicht, dass der Autor inzwischen auf Thriller umgesattelt hat. Deshalb fiel mir "Der zweite Schöpfer" erst jetzt in die Hände. Das ist, dies sei vorbemerkt, kein Thriller der herkömmlichen Art. Die Effekthascherei hält sich bei aller Brutalität in Grenzen, tatsächlich widmet sich Marshall atmosphärischen Schilderungen oder denjenigen der Befindlichkeiten seiner Figuren weit intensiver als solchen, bei denen es um die eigentlichen Taten geht. Aber - eins nach dem anderen. Ich-Erzähler Ward Hopkins sucht das Haus seiner Eltern auf, die kürzlich bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Dort findet er eine Nachricht, die auch nur er hätte finden können: "Wir sind nicht tot" steht auf einer gut versteckten Notiz. Hopkins sucht weiter und entdeckt ein verwirrendes Videoband, das auf den ersten Blick der Zusammenschnitt mehrerer alter Super-8-Filme zu sein scheint, die in keinem Zusammenhang stehen und auch keine Hinweise enthalten. In der letzten Sequenz allerdings sieht Hopkins, wie ein kleiner Junge von seinen Eltern ausgesetzt wird, und dieser Junge hat große Ähnlichkeit mit Ward. Nur war er es definitiv nicht selbst. In einer von zwei weiteren Parallelhandlungen wird die Entführung eines jungen Mädchens geschildert - auf sehr eindringliche Weise. Schließlich erlebt der Leser noch, wie zwei FBI-Beamte nach einem Serienmörder suchen, der als "Der Botenjunge" bezeichnet wird, weil er den Eltern der Opfer Pullover schickt, auf die die Namen der Kinder gestickt sind - mit den Haaren eines früheren Opfers, dem Kind eines der beiden FBI-Ermittler. Die drei Handlungsstränge verbinden sich schließlich, und es geht offenbar um nicht weniger als eine weltweite Verschwörung. Die "Straw Men" scheinen hinter allem zu stecken, und diese Gruppe, die mit äußerster Brutalität und Rigorosität vorgeht, will die Welt von jenen Menschen befreien, die mit dem "Virus", der da "soziales Gewissen" heißt, verseucht sind. Je näher die Ermittler dieser Gruppe kommen, umso gefährlicher wird die Suche. Wer Thrillerkost der üblichen Art erwartet, wird von "Der zweite Schöpfer" sicher enttäuscht, denn die Taten und ihre vorläufige Aufdeckung stellen nur einen Randaspekt dar. Marshall beschäftigt sich intensiv mit sozialen Strukturen, vermittelt Gesellschaftskritik und wirft keine seiner Figuren einfach so in die Geschichte. Sie sind, wie auch die Handlung, niemals linear, ganz im Gegenteil vielschichtig, ziemlich ruppig, mit sich selbst beschäftigt, unsicher und dann wieder unerwartet, aber nicht unerklärlich tapfer. Die Atmosphäre ist oft düster und nicht selten depressiv. Die Entwicklung hat verwirrende Aspekte, die auch am Ende dieses ersten Teils einer Trilogie nicht aufgeklärt werden. "Der zweite Schöpfer" ist kein vordergründiger Roman, keine von diesen Schema-F-Geschichten, in denen die Figuren der Handlung untergeordnet sind, bei der es nur darum geht, Spannung auf die Spitze zu treiben. Der Showdown, der keinen Schlusspunkt darstellt, hinterlässt einen Leser, der nicht entscheiden kann, ob er verstimmt oder erwartungsvoll sein soll. Er hat ein bemerkenswertes, unkonventionelles Buch gelesen, das am Ende keinen Ausweg aus der düsteren Rätselhaftigkeit gewiesen hat, die aufgebaut wurde. Eigentlich ist sogar das Gegenteil der Fall: Das Unheil, das in letzter Minute abgewendet wurde, scheint lediglich die Ouvertüre zu einem weitaus größeren gewesen zu sein. Bleibt nur die Entscheidung, sich gleich dem Folgeband zuzuwenden: "Engel des Todes". Der dritte Teil, "Blutsbruder", erscheint im November.