Die Prozedur. Roman.
Harry Mulisch, Rowohlt 2000
Bevor uns Mulisch mit der amüsant-verstrickt-mysteriösen Geschichte des Biologen Viktor Werker unterhält, sind zwei Exkurse notwendig, einer zum Thema Schreiben und ein weiterer ins frühe Mittelalter, als ein Rabbi von seinem Herrscher genötigt wird, einen Golem zu schaffen, um als Gegenleistung bessere Lebensbedingungen im jüdischen Ghetto zu bekommen. Es geht, ahnen wir, um die Macht der Worte, der Schrift (auch Gene setzen sich aus Buchstabenfolgen zusammen, mehr oder weniger), den Schöpfungsprozeß. Wie etwas später in "Siegfried" macht sich Mulisch Gedanken darüber, inwieweit Erzählung und Erzähler voneinander trennbar sind, inwieweit eine Erzählung auch den Erzähler überrascht, denn das Ergebnis kann kein Schriftsteller wirklich vorahnen. Was ist das Rezept - und wann entsteht es?
Der Biologe Werker hat Leben geschaffen, aus Kristallen, und auch der Golem ist aus Lehm entstanden. In Briefen an seine nie geborene Tochter deutet Werker die metaphysischen Verstrickungen an, plaudert aus seinem Leben, ironisch-selbstreflektiert; eigentlicher Adressat ist die eigene Exfrau, die ihn verlassen hat, weil er im Moment des Konfliktes nicht an ihrer Seite war. Zum Schluß, nach drei sehr vergnüglichen imaginären Telefondialogen mit der Ehemaligen, der er geschworen hatte, sie niemals anzurufen, wird Werker unfreiwilliger Zeuge eines telefonischen Mordkomplottes, dem er selbst zum Opfer fallen wird. Das Buch schließt mit dem Moment der Erkenntnis; Werker, der selbst Leben geschaffen hat, erkennt im letzten Augenblick die wahre Größe des Seins, die Idee, das Rezept.
Mulisch erzählt, als würde er sich eigentlich keine Leser wünschen, als wäre er es selbst, mit dem er plaudert. Die sperrige Struktur des Buches, das sich konventionellen Erzählformen redlich verweigert, mutet an, als wären ein paar Ideen zum Thema - wie immer kenntnisreich, und erfrischenderweise nie belehrend - zu einem Manuskript verklappt worden. Die Geschichte Werkers, dicht an einer puren Personenskizze, fesselt alleine aufgrund der hohen Erzählkunst Mulischs; einem anderen Autor hätte man die Figur, den Hintergrund, die Geschehnisse nicht abgenommen - und übrigens auch nicht den Kontext. Der angedeutet bleibt und als Thema über allem schwebt, auch der Begegung mit den drei "Milchbrüdern", den Drillingen, die von der Milch von Werkers Mutter genährt worden sind. Auch diese Gelegenheit nutzt Mulisch für ganz eigene Gedanken. Ein erstaunliches, etwas unkomfortables Buch über Schöpfung, Abstammung und Glauben, das am Ende mehr Fragen offen läßt, als es beantwortet - fast schon tautologisch, ist ja schließlich von Mulisch.