Die alltägliche Physik des Unglücks.
Roman.
Marisha Pessl, Fischer (S.), März 2007

So temporeich wie eine Weinbergschnecke. Und trotzdem gut

Über Klappentexte ist schon viel gesagt worden, aber offenbar längst nicht genug. Der Buchrücken dieses Titels verspricht Temporeichtum. Stellt sich die Frage, welches Buch dieser Text meint. Es kann sich nicht um "Die alltägliche Physik des Unglücks" handeln.

Die intelligente und überaus belesene Halbwaise Blue van Meer reist mit ihrem rastlosen Vater durch die Staaten. Gareth van Meer arbeitet als Dozent an verschiedenen Universitäten, wenn er nicht gerade politische Essays verfasst oder Aphorismen absondert. Der Vater ist ein Womanizer und sammelt "Junikäfer", wie Blue jene Frauen bezeichnet, die den attraktiven Papa umschwärmen, um alsbald in seiner promisken Hitzigkeit zu verglühen. Als die beiden nach Stockton kommen, und Blue die St. Gallway Highschool besucht, wird das Paar vorübergehend sesshaft. Hannah Schneider, eine absonderliche, aber hübsche Lehrerin für Filmgeschichte, nimmt sich der Ausnahmeschülerin an, und verkuppelt sie mit den "Bluebloods", einer Gruppe von Sonderlingen im positiven Sinne des Wortes.

Mehr geschieht auf den ersten 300 Seiten dieses sehr wortmächtigen und wirklich intelligent geschriebenen Buches nicht. Blue betrachtet und kommentiert ihre Umwelt, bleibt aber weitgehend passiv. Auch die zunehmend seltsamen Geschehnisse um ihre Lieblingslehrerin bringen sie nicht dazu, einzugreifen. Dann veranstaltet Hannah Schneider ein Wanderwochenende mit ihren Zöglingen, und alles ändert sich. An dieser Stelle - im letzten Drittel - kommt der Roman in Fahrt, wenn man so will. Aber wirklich temporeich wird es auch hier nicht, denn Marisha Pessl erzählt nicht einfach, sie lässt sich Zeit; ihre Protagonistin stellt originelle Vergleiche an, die sehr bildhaft sind und immer etwas mit Literatur oder Filmgeschichte zu tun haben. Nichts wird nur berichtet. Die absonderliche Sicht der Blue van Meer trägt jede Situation, und sei sie auch noch so belanglos. Scheinbar.

Wenn man den etwas zähen Anfang hinter sich gebracht und an die erst nach und nach vereinnahmende Erzählweise gewöhnt hat, öffnet sich dieses wundersame Buch wie eine Blüte im Frühling. Es entfaltet eine Sogwirkung, die nachhaltig ist, woran auch der obskure, aber nachvollziehbare Schluss nichts ändert. Eine leider anfangs etwas sperrige, aber wirklich bemerkenswerte, sehr intelligente Lektüre. Empfehlenswert.

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