Perlmanns Schweigen. Roman.
Pascal Mercier, btb Verlag (23. Oktober 2008)


perlmanns schweigen

Der Linguistik-Professor Philipp Perlmann übernimmt die Aufgabe, ein von der Firma Olivetti finanziertes Symposium angesehener Sprachforscher zu leiten. Es ist Spätherbst, irgendwann Anfang der Neunziger; die Handvoll Wissenschaftler wird sich in einem Nobelhotel an der ligurischen Küste treffen. Perlmann aber steckt in einem Schaffenstief. Nicht nur der ein Jahr zurückliegende Tod der Ehefrau Agnes lähmt ihn. Der routinierte Dozent und international reputierte Linguist hat die Orientierung verloren - er empfindet das Thema als ausgereizt, hat Schwierigkeiten, Interesse aufzubringen, leidet unter dem hohen Druck, regelmäßig Neues zu veröffentlichen, bringt seine Liebe für die Sprache und die Erforschung derselben nicht mehr in Einklang. Er trifft als erster am Konferenzort ein, ohne Idee für einen Vortrag. Im Gepäck trägt er den originellen Text eines weitgehend unbekannten russischen Kollegen mit sich; dieser Kollege namens Leskov war zwar eingeladen, musste aber seine Teilnahme kurzfristig absagen, da ihm die Behörden im Russland der Nachwendezeit die Ausreise verweigerten.

Als die anderen Teilnehmer nach und nach anreisen, wächst der Druck, und die Ankunft des verhassten amerikanischen Konkurrenten Millar lässt ihn auf unerträgliche Weise ansteigen. Perlmann unternimmt sein Möglichstes, um als letzter während der fünfwöchigen Klausur ein Projekt vorstellen zu müssen, aber statt daran zu arbeiten, vertieft er sich in die Übersetzung von Leskovs Text. Doch der Termin rückt unaufhaltsam näher. Zwischen Barbituraten, absonderlichen Ausflügen und der zur Obsession gewordenen Transkription von Leskovs Arbeit entwickelt sich Perlmann immer mehr zum Sonderling. Er nimmt die Gruppe und die Aufgabe als Bedrohung war, kapselt sich ab, verbringt ganze Nachmittage in einer kleinen Trattoria, um mit Hilfe einer mächtigen Chronik des zwanzigsten Jahrhunderts, die er in einem kleinen Schreibwarenladen gekauft hat, die eigene Position in der Geschichte zu ermitteln. Als die Abgabe eines Textes nicht mehr zu vermeiden ist, reicht Perlmann die Übersetzung zur Weitergabe an die Kollegen ein - die schlimmste aller denkbaren Taten für einen angesehenen Wissenschaftler. Kurz darauf kündigt sich überraschend doch noch der kleine, dicke Russe an, den Perlmann nur einmal in St. Petersburg getroffen hat. Die Aufdeckung des Plagiats aber käme einer Vernichtung gleich. Perlmann muss eine Lösung finden. Zwischen Schlaftabletten und unzähligen Zigaretten ersinnt er einen perfiden Mordplan.

Merciers ("Nachtzug nach Lissabon") über sechshundert Seiten starker Erstling liefert eine akribische Innenschau des verzweifelten Wissenschaftlers, der ausgerechnet in seinem Expertengebiet, der Kommunikation, auf grandiose Weise scheitert. Die antizipierten Ereignisse - der Linguist ist so gut wie ausschließlich damit beschäftigt, sich vorzustellen, was geschehen könnte -, die selten so eintreffen, wie Perlmann erwartet, treiben ihn in eine Psychose, die unbeschadet zu überstehen als völlig unmöglich erscheint. Die Not Perlmanns wächst quasi minütlich und hinterlässt auch körperliche Spuren.

Der Roman überzeugt sprachlich und logisch; selten nur habe ich ein Buch gelesen, das die Unausweichlichkeit einer "leisen", sehr persönlichen Katastrophe so nachvollziehbar und anschaulich geschildert hat. Allerdings nötigt Mercier dem Leser auch einiges an Konzentration und Mühe ab. Viele Szenen wiederholen sich, aber nicht immer offenbart sich hierbei die dramaturgische Notwendigkeit. Seitenlange Betrachtungen von Nichtigkeiten, die zwar aus Perlmanns Sicht eine evidente Rolle spielen mögen, die aber die ohnehin nur sehr gemächlich entwickelte Handlung lähmen, führen oft an die Grenze zur Langeweile, manchmal - leider - aber auch darüber hinaus. Der Roman hätte auch gut und gerne halb so lang sein können. Zudem umschifft Mercier einige logische Klippen - etwa die nicht unerhebliche Ausgangsfrage, warum der offenbar zwanghafte Perlmann überhaupt die Teilnahme an der Konferenz zusagt - weniger nachvollziehbar als andere. Wer dem Klappentext dieses bemerkenswerten Erstlings folgt, wird jedenfalls eine Enttäuschung riskieren. Wer aber einen klugen, achtsamen, originellen - etwas zu lang geratenen - psychologischen Roman auf sprachlich höchstem Niveau lesen möchte, kann nichts falsch machen. Einiges an Lesezeit sollte man auf jeden Fall einplanen.


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