Otherland - Meer des silbernen Lichts. Bd.4. Roman.
Tad Williams, Klett-Cotta 2002
4 Jahre und fast 4000 Seiten hat es gedauert, bis die "Otherland"-Saga, die Mär vom "Anderland", das Geschichtengeflecht um das "Gralsnetzwerk" ein Ende fand. Williams hat diesen letzten Teil sechs Mal vollständig überarbeitet, weshalb die Fangemeinde auch fast zwei Jahre warten mußte, und er selbst nennt das Buch "eines der überflüssigsten in diesem Teil der bewohnten Galaxis". Der Mann hat recht.
In einer nicht sehr fernen Zukunft bauen sich ein paar superreiche, größtenteils steinalte Verschwörer ein gigantisches Computersystem, von dem sie sich Unsterblichkeit erhoffen. Virtuelle Environments von absoluter Realitätstreue, ausgelebte Wunschvorstellungen und Kinderträume fließen ein in dieses enorme Konstrukt, das verbunden ist mit dem "Netz", der weltweiten Kommunikationsplattform, die längst das Fernsehen und sämtliche anderen Techniken abgelöst hat. Prinzipiell würde das kaum wen stören, benötigte das "Gralsnetzwerk" nicht einen besonderen Treibstoff, um zu funktionieren: Kinder. Die Gralsbrüder, Industriemagnate und - natürlich - hochgestellte Militärs - streben an, einen Prozeß zu durchlaufen, der sie vollständig in das Netz übergehen läßt, virtuelle, vollständig funktionsfähige Kopien ihrer selbst erstellt.
Genaugenommen läßt sich die Handlung dieser Mammutschwarte in ein paar Sätzen zusammenfassen. Die Kinder, die über Netz-Jugendsendungen in das Gralssystem gekidnappt werden, fallen im "real life" in eine Starre, eine Art Koma. Eine Handvoll Protagonisten kommt nach und nach dahinter, daß die Unsterblichkeitsversuche der Gralsbrüderschaft hinter diesen Krankheitsfällen stecken, und ein knappes Dutzend von ihnen dringt in das Netz ein. In wechselnden Environments, die mal aus Märchen entliehen sind, mal Nachbildungen des alten Troja, Ägyptens oder des wilden Westens darstellen, fliehen sie vor den Häschern der Gralsbrüder, während sie zu entschlüsseln versuchen, in welchem Zusammenhang die vielen, vielen Rätsel stehen, mit denen sie konfrontiert werden. Gleichzeitig stellt sich heraus, daß sie das System nicht mehr verlassen können. Währenddessen wächst ein neuer, der eigentliche Antagonist: John Dread, der Helfer eines, eigentlich *des* Gralsbruders, ein widerliches, gewalttätiges Scheusal, gewinnt am Ende des dritten Teils die Macht über das gesamte System, und stürzt die Suchenden im vierten Band in eine Orgie von Brutalität und Schrecken, bis hin zum - bereits seit tausenden Seiten
vorhersehbaren - Ende der ganzen Sache.Williams kann wirklich toll erzählen, die einzelnen Episoden sind spannend und phantasiereich, die Figuren fein gezeichnet, die Diktion stimmt, er hält die selbst gesetzten Regeln ein, entwirft einen eigenen Slang, eine eigene Sprache, insbesondere für die Kids und Jugendlichen. Aber das lenkt nicht davon ab, daß wenig passiert, außer, daß die Protagonisten von einer virtuellen Welt in die nächste stolpern, in der sie jedes Mal noch schlimmeren Gefahren ausgesetzt werden, die sie selbstverständlich praktisch verlustfrei überleben. Im letzten Band herrscht pausenlos Schrecken am Limit, eine Inflation des Grauens. Das bordet über und schleift sich selbst, wird irgendwann uninteressant. Am Ende steht eine Auflösung, die wenig überrascht, aber nichtsdestotrotz dramaturgisch unsauber vorbereitet ist. Das Buch schließt fad und ein wenig quälend ab, und dem Leser bleibt das Gefühl, über eine lange Strecke völlig grundlos mit den Protagonisten gelitten zu haben. 1000 Seiten hätten für *diese* Story bei weitem genügt. Tolle Einzelerzählungen, aber insgesamt gesehen recht fleischlos, gelegentlich von erschreckend vordergründiger Metaphorik.