Und Nietzsche weinte. Roman.
Irvin D. Yalom, btb-Verlag 1996
Es ist schon ein bißchen absonderlich, bei einem Buch, das sich weitgehend mit Psychoanalyse und nietzscher Philosophie beschäftigt, zu schreiben: Das schönste Happy-End, das ich seit sehr langer Zeit gelesen habe. Alleine, es ist so. Dieser ganz, ganz wunderbare Roman endet so vollkommen, daß ich geneigt war, es der Romanfigur (!) Nietzsche gleichzutun - und zu weinen.
Protagonisten dieses Glanzstückes sind Dr. Josef Breuer, hochangesehener jüdischer Arzt im Wien des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, dessen Protegé, der junge Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche, verkannter Philosoph, dessen Erstlinge Auflagenstärken erzielen, die an heutige Druckkostenzuschußverlage erinnern, Lou Salomé, umtriebige und freiheitsliebende Frauenrechtlerin, und Bertha Pappenheim, die unter dem Pseudonym "Anna O." Einzug in die Geschichte der Psychoanalyse gehalten hat. Die Grundlagen des Buches sind authentisch; Breuer und Freud haben mit "Studien über die Hysterie" die Grundlage zur modernen Psychoanalyse gelegt, Breuers Patientin "Anna O." findet sich in fast allen Freud- und Breuer-Biographien.
Yalom verknüpft die Figuren, indem er Nietzsche zum Patienten Breuers werden läßt; Breuer hat soeben mit der Unterstützung Freuds die ersten Gehversuche mit "Redekuren" unternommen, einer unorthodoxen Behandlungsweise von Patienten, deren Krankheitsbild sich der damals herkömmlichen Herangehensweise versagt. In Folge einer "Intrige" Lou Salomés, in die Nietzsche zutiefst unglücklich verliebt ist, begeben sich der Philosoph und der Wiener Arzt in ein Verhältnis, das anfangs geprägt ist von dem Versuch Breuers, das Vertrauen des schwierigen Patienten - Migräne, Misanthropie und abgrundtiefe Verzweiflung - zu gewinnen, das jedoch zusehens umschlägt in die Behandlung von Breuers Obsession, seiner süchtigen Scheinliebe zu Anna O.; die Parallelen dieser Obsession zu Nietzsches Besessenheit von Lou Salomé vereinen die beiden schlußendlich. Zwischen dem Beginn und diesem Ende stehen endlose Dialoge über Freiheit, Menschsein, Glaube, Pflicht, Treue, Philosophie und Psychologie - und die unglaublichen Reflexionen der beiden Protagonisten über den Zeitraum der Annäherung aneinander und an die Problemlösung hinweg.
Die Brillanz des Werkes besteht in zwei Dingen: Zum einen in der eindringlichen Nähe, die Yalom zu seinen Figuren öffnet, ohne ihnen die Authentizität zu nehmen. Und zum anderen in der wissenschaftlichen Genauigkeit und Nachvollziehbarkeit der weltberühmten Protagonisten, die sich hier in "allzu menschlichen" Situationen befinden, ohne dabei ihre prominente Singularität zu verlieren. Ich habe alles von Nietzsche gelesen, und auch die "Studien" von Freud und Breuer, und es gibt keinen Bruch, sondern zum einen das Gefühl, diese Personen anhand der Fiktion näher kennengelernt zu haben, und zum anderen eine Verstärkung von deren Thesen quasi über ein praktisches Fallbeispiel. Ein Kunststück, bravourös, dem man die Sprödheit am Anfang sehr rasch verzeiht. LESEN!