Die Nachtwächter. Roman.
Terry Pratchett, Goldmann 2003




Nach mehr als zwei Dutzend "Scheibenwelt"-Romanen, denen letztlich Luft und Originalität auszugehen schienen, widmet sich Pratchett abermals seiner vermeintlichen Lieblingsfigur, die inzwischen die Qualität eines Alter Ego anzunehmen scheint: Kommandeur Samuel Mumm von der Ankh-Morporker Stadtwache. Mumm ist inzwischen Herzog, hoch angesehen und weitaus mehr mit Repräsentationsaufgaben befaßt, als mit seiner Lieblingstätigkeit, den nächtlichen Streifengängen in ausgelatschten Stiefeln (um das Pflaster der Straßen zu spüren). Seine Frau, Lady Sybil, erwartet das erste Kind. Aber Mumm kann sich nicht auf die anstehende Vaterschaft konzentrieren, denn ein kaltblütiger Serienmörder treibt sein Unwesen: Der Killer Carcer schlachtet Wächter um Wächter ab.

Als Kommandeur Mumm den Täter stellt, fallen beide in eine Art Zeitloch, woraufhin sie sich zwar in Ankh-Morpork wiederfinden, aber in der Vergangenheit, vor dreißig
Jahren, als es noch keinen allwissenden und alles kontrollierenden Patrizier namens Vetinari gab, als die Wache mehr mit davonlaufen und dem Eintreiben von
Bestechungsgeldern befaßt war, als die monströse Stadt ständig am Rande des sozialen Kollapes lavierte, als "Treibe-mich-in-den-Ruin-Schnapper" seine ersten
Fleischpasteten auf den Markt brachte. Es ist die Zeit, als der legendäre John Keel einen Aufstand anführte, der die immerhin *etwas* rosigere Zukunft der Stadt
begründen sollte. Mumm wird Inspektor bei der Stadtwache, begegnet seinem jüngeren Selbst, sorgt schließlich dafür, daß sich die Zukunft so entwickeln wird, wie
geneigte Scheibenwelt-Leser sie kennen, denn er ist - war - besagter John Keel.

Es ist, als würde Pratchett selbst diese Zeitreise antreten, als wäre er es, der abermals die Chance bekommt, in Stiefeln ohne Sohlen durch die Vergangenheit zu
stapfen. "Die Nachtwächter" ist geprägt von Melancholie, subtiler Kritik - auch Selbstkritik - und leisen Tönen, wahrscheinlich etwas *zu* leisen Tönen für Freunde
der Scheibenwelt-Phantasien. Dieses Buch ist wahrscheinlich das literarischste aus dem Zyklus, eine Art vorweggenommenes Vermächtnis, eine Rückkehr zu den
Ursprüngen, ohne das inzwischen Geschaffene zu verleugnen. Pratchett öffnet ein Fotoalbum mit den Kindheitsbildern seiner Helden, und fast meinte ich, beim Blättern
auf die getrockneten Reste einiger Tränen zu stoßen. Das schönste Scheibenwelt-Buch seit langem, aber auch ein sehr untypisches.

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