Die Nachhut. Roman.
Hans Waal, atv 2009


Vergangenheitsbewältigung der besonderen Art

Kurz vor Kriegsende wurden einige junge Männer von der Waffen-SS rekrutiert, um ein Sonderobjekt zu schützen - eine riesige Bunkeranlage irgendwo südlich von Wittstock, in der Nähe eines Ortes namens "Gossow". Ihr Auftrag: Den Bunker zu halten, koste es, was es wolle. Und auf neue Befehle zu warten. Das taten sie dann auch, sechzig Jahre lang.

Im Jahr 2004 zerbricht der letzte Dosenöffner, und die vier überlebenden SS-Männer wagen die Befehlsverweigerung: Sie verlassen den geheimen Bunker, den nach Kriegsende - von dem die Soldaten nichts wissen - niemand entdeckt hatte, und in dem sie weiterhin Kriegslärm hörten, weil sich direkt darüber ein NVA-Übungsgelände befand.

Die alten Herren - alle weit über siebzig, einer gehbehindert und in einem mit Motorradfelgen zum Rollstuhl umfunktionierten Sessel unterwegs - schlurfen in SS-Uniformen und mit gut geölten Maschinengewehren bewaffnet durch die entvölkerte Region, finden die Autobahn und schießen auf einen Bus, ausgerechnet einen mit US-Soldaten an Bord. Kurz darauf besetzen sie eine kleine Kirche. Dass der Krieg längst vorbei ist, glauben sie nicht. Es sagt ihnen aber auch keiner so richtig.

Das Geschehen ruft einerseits die Presse, vor allem ein zufällig in der Gegend tätiges Privatfernsehteam, und den Verfassungsschutz auf den Plan. Während die einen das Ganze für einen Ulk halten, fürchten die anderen um die Stabilität der wehrhaften Demokratie. Schnell werden die alten Nazis zum internationalen Politikum.

Der Stern-Reporter, der hier unter einem Pseudonym schreibt, hat weitaus mehr vorgelegt als nur eine kleine Politsatire. Aus verschiedenen Perspektiven seziert er die Befindlichkeiten, die auch über sechzig Jahre nach Kriegsende noch den Umgang mit der Nazi-Zeit und ihrem Erbe betreffen.

"Die Nachhut" ist ein politisches Buch, das auch vom entsprechenden Duktus beherrscht wird. Wer eine brachiale Geschichtshumoreske im Stil von Mel Brooks erwartet, wird enttäuscht werden. Waal führt seine Protagonisten nicht vor, sondern zeigt sie in ihrer entlarvenden Menschlichkeit, von der die politische Überzeugung, ob anerzogen oder frei gewählt, nur ein Teil ist. Das ist zwar auch lustig, etwa als die vier in das Set eines Kriegsfilms stolpern und mit echten Waffen auf Statisten schießen, oder als einer der SSler auf einen alten DDR-Nostalgiker trifft und beide lange glauben, von derselben Sache zu reden, aber meistens ist es eine relativ nüchterne Innenschau einer Republik, die auch über sechzig Jahre danach mit ihrer Vergangenheit keineswegs zurechtkommt. "Die Nachhut" ist zwar sehr unterhaltsam, gelegentlich amüsant, aber in erster Linie ernüchternd. Denn die Botschaft lautet: Begriffen hat auch heute noch niemand so recht, was "damals" passiert ist. Oder man will es nicht wahrhaben. Was schlimmer wäre.

Schlau, böse, empfehlenswert. Nur manchmal ein bisschen schwafelig.

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