Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien.
Roman.
Franz Schulz, Eichborn 2002 (Erstveröffentlichung bei Haffmans, Zürich)

 

Was ist von einem Roman zu halten, der mit einem dutzendseitigen Glossar bestückt ist? Dessen Titel nach Klinikfluren riecht? Dessen fast 800 Seiten zum größten Teil mit tagebuchartigen "Journalen" befüllt sind? Dessen Helden Mufti, Nita, Volli, Satschesatsche und Kolki heißen? Der u.a. in einem "Kaff" südlich von Hamburg spielt, von dort zu erreichen durch das "Arschloch der Welt" (den Elbtunnel)? Der pro Absatz, ja pro Satz so schwer mit Adjektiven beladen ist, daß man mit der Zählerei kaum hinterherkommt? Bei dem man alle halbe Seite geneigt ist, mal zum Glossar zu blättern? Der fast siebzig ehemalige Märker kostet?

Nun, sehr viel.

"Morbus fonticuli" bezeichnet die - erfundene - "Fontanellenkrankheit", die der Held Bodo "Mufti" Morten an sich diagnostiziert. Mufti ist verschwunden, sein Freundeskreis macht sich auf die Suche, eine illustre, bunte Runde, der Jugendfreundschaften aus dem "Kaff" angehören, aber auch Anita (Nita), die geprellte Langzeitfreundin, verlassen mit dem Schreckenskernsatz für jedes Beziehungsende: "Ich gehe mal eben Zigaretten holen." - lange nicht das einzige Klischee, das Schulz auf vortreffliche Weise kolportiert.
Aber Mufti ist nicht wirklich verschütt, wird nach 10 Tagen aufgefunden, nackt bis auf Hut und Gummistiefel eine Grube grabend, im Kolker Wald jenseits des "Kaffs"; vorher aber entdeckt Nita Zweitwohnung und -leben ihres scheinbar leicht lethargischen, versoffenen, schriftstellerisch ambitionierten Freundes, der jahrelang für das Kleinanzeigenblatt "Elbe Echo" gearbeitet hat. Mufti hat im "Kabuff", der Zweitbude, getrunken, geraucht und geschrieben, aber auch Bärbel, genannt "Bülbül" begattet, die junge Dame mit dem kontinentalen Hintern, Tresenmädchen aus der "Hexenkate", begeisterte Van-Demme-Filmeguckerin, befreundet mit radebrechenden Türken aus dem Karateklub.

Der dreiteilige Roman erzählt zunächst die Geschichte vom Verschwinden Mortens bis zum Moment des Wiederauftauchens, im Hauptteil werden die drei "Journale" wiedergegeben, und der Schlußteil ... nein. Lieber selber lesen. Das "Buchstabengebirge" (Neue Zürcher Zeitung), diese uferlose, eidetische Selbstbetrachtung des sehnsüchtigen Laien, der zwischen akribisch dokumentiertem Zigaretten- und Alkoholkonsum so wortreich, bildhaft, spannend, extrem komisch und in faszinierend authentischer, detailfixierter Weise die Geheimnisse um die eigene Person lüftet, den Werdegang schildert, das Drama der dreiteiligen Beziehung zu Sexmonster "Bülbül", das Geschehen in der EE-Redaktion mit ihren schrulligen Mitarbeitern, den Grund für den eigenen Reichtum, das Verhältnis zu den Freunden, die Alltagsbegegnungen und ihre Widrigkeiten. Fantastisch! All die Situationen, die sich unsereins merkt und mit einem Lächeln quittert, um sie irgendwann mal in eine Geschichte bauen zu wollen - Schulz hat sie allesamt zu einem Kompendium des leidvollen, sadomasochistisch-narzistischen Daseins verwoben, findet phantasiereich und überbordend Worte für Alltägliches, schildert in einer Sprache, die anfänglich etwas sperrig und konstruiert wirkt, aber nach und nach Heftigkeit annimmt, an Substanz und Glaubwürdigkeit gewinnt, so daß man bereits in der Mitte leicht melancholisch auf den geringer werdenden Anteil noch verbleibender Seiten schielt.

Schulz läßt keine Frage offen und keine Situation aus, extrahiert jeder Belanglosigkeit gnadenlos und wortgewaltig das Quentchen innewohnender Komik, und häufig noch ein unwillkürliches, bestätigendes Nicken beim Leser. Mufti, der icherzählende Held, Underdog und Schwaller, Begatter und Lügner, Säufer und Besoffenfahrer, Skat- und Phrasendrescher, Kumpel und Kumpelschwein, offenbart sich über diese mehr als lesenswerten 766 Seiten als eine Figur voller Ambition, Mißverständnis, Sympathie, mittelmäßiger und schillernder Einzigartigkeit. Der beste deutsche Gegenwartsroman, den ich in diesem Jahrtausend gelesen habe.



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