Mitten ins Gesicht. Roman.
Kluun (Raymond van de Klundert), Fischer 2007


Entwaffnend unmoralisch

Carmen und Stijn sind schön und erfolgreich, das glanzvolle, überaus attraktive Paar wird von allen beneidet. Gut, von fast allen, denn ein paar enge Freunde wissen um Stijns "Monophobie". Der Mann pimpert freitags, an seinem Ausgehabend, so gut wie alles, das nicht rechtzeitig "nein" schreien kann. Aber das ist auch beinahe der einzige Makel an der tatsächlich liebevollen Beziehung. Bis sich eine Diagnose als Fehldiagnose herausstellt. Die gutartige Geschwulst in Carmens Brust ist so gutartig dann doch wieder nicht. Ganz im Gegenteil. Carmen hat Brustkrebs, und zwar die scheußlichste aller Arten; Carmen wird sterben, früher oder später.

In seinem autobiographischen Roman erzählt der Holländer Kluun von den Veränderungen, die nach und nach oder auch schlagartig eintreten, davon, wie sich sein Fremdgehen plötzlich relativiert, davon, wie es ist, eine Frau noch immer lieben zu wollen, die eine "Chemo" nach der anderen macht, dann nur noch eine Brust hat, zunächst, denn diese Katastrophe wird nicht die letzte bleiben. Eine davon besteht in der drastischen Beantwortung der Frage, was aus Liebe wird, wenn ein Partner dahinsiecht.

Ein Krebsbuch also. Aber auch ein Poproman. Der amerikanische Autor Jonathan Tropper schrieb sinngemäß, daß es zu jeder Lebensfrage einen passenden Springsteen-Song gibt, und deshalb finden sich Textzeilen vornehmlich aus Springsteen-Songs (aber auch solchen von Radiohead, U2 und Madonna) über jedem der vielen Kapitel. Außerdem reicht der Autor wichtige Hintergrundinformationen in kleinen Textboxen, die mitten im Text stehen. Das ist irgendwie cool, auch wenn es nicht wirklich Sinn macht. Es stört wenigstens nicht. Denn die Geschichte ist treibend, dicht und ergreifend, meistens jedenfalls.

Das besondere an diesem Buch ist seine Perspektive - und die Ehrlichkeit des Erzählers. Seine Ängste, seine Verdrängungsmechanismen, seine unmoralischen Entscheidungen, sein Betrug an der sterbenden Frau, die er auf andere Art zu lieben beginnt, als sie stirbt - das steht im Vordergrund. Stijn weiß nicht weiter, aber er geht trotzdem voran, als brechender Held, als treuer Betrüger; er wird schließlich zum Freund. Dem Leser fällt es dabei häufig nicht leicht, dem promisken Erzähler seinerseits die Treue zu halten. Aber diese Frage stellt sich nicht wirklich. Das Buch schmerzt, und dieser Schmerz bindet.

Literarisch ist "Mitten ins Gesicht" sicherlich kein sehr großer Wurf, vieles wirkt altbekannt und manches banal, vor allem sprachlich. Der Roman hat hier und da seine Längen, aber andererseits ein extrem hohes Maß an Authentizität. Entscheidend aber ist jene entwaffnende Ehrlichkeit des Erzählers. Dadurch wird das Buch zu einem glaubhaften Dokument über eine Grenzsituation, über Freundschaft, Liebe und eine Form von Untreue, die trotzdem Treue ist.

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