Mitte. Roman.
Norman Ohler, Rowolth Verlag, 2001
Hackescher Markt- das ist die Mitte Berlins, hier lag das legendäre jüdische Scheunenviertel, hier war die Welt von Döblins Franz Biberkopf. Zu DDR-Zeiten vergessen und dem Abriß preisgegeben, nach der Wende wiederentdeckt von Hausbesetzern, Künstlern und allerhand halblegaler Club- und Kneipenkultur. Gegen Ende der 90er setzte dann die übliche gentrifcation ein: Sanierung und Verdrängung der Off-Kultur durch teure Läden und Galerien und Invasion der handybewaffneten Medienschickeria.
Genau zu diesem Zeitpunkt setzt Norman Ohlers Roman ein.
Sein Held Klinger hat erst mal genug vom e-business. Mit großen Karriereplänen war er nach London gezogen, nun gehört er zu den Opfern der ersten dotcom-Pleitewelle. Zurück in Berlin, nimmt er den erstbesten Job als Kaufhausdetektiv im Kaufhof am Alex an und zieht in ein altes Haus am Hackeschen Markt, das irgendwann entkernt werden soll (bedeutet mehr oder weniger Abbruch, nur die Fassade bleibt stehen) Dort leben nur noch ein verschrobener Zoologe, der giftige Spinnen züchtet, und ein schrulliger Alter, der immer noch glaubt, in der DDR zu leben und die Michael-Jackson-Figur bei Saturn für den jungen Lenin hält. Das Haus mit seinen verwinkelten Wohntrakten und geheimnisvollen Hinterausgängen zieht Klinger mehr und mehr in seinen Bann. In einem mit allerlei Gerümpel und elektronischen Geräten vollgestellten Nebenraum hört er plötzlich Stimmen. Klinger erfährt nach und nach durch Nachbarn und den Kneipenwirt um die Ecke, daß sein Vormieter Igor in jenem Zimmer bei einem Schwelbrand erstickt ist. Igor experimentierte mit Drogen und Schallwellen, galt als charismatischer Eigenbrötler. Mit Hilfe der Droge Ketamin gelang es ihm, sein Bewußtsein vom Körper zu trennen- bis zu jenem Abend, als er eine brennende Zigarette fallen ließ. Der Geist konnte nicht zurück in den Körper und spukt seitdem im Hause herum, immer noch in der Hoffnung, es vor der Luxussanierung retten zu können. Klinger, hin-und hergerissen zwischen Furcht und Faszination, probiert schließlich selber die Droge. Aufgemischt wird die Situation durch die Prostituierte Sophia, die Klinger am Hackeschen Markt kennengelernt hat und an der auch Igor Gefallen findet. Als dieser versucht, Sophia und ihn zu sich ins Jenseits zu holen, wissen beide, daß sie sich aus dem Bann des spukenden Mitbewohners befreien müssen...
Obwohl der Autor tief in die Horrorkiste greift (labyrinthische Gänge, offene Gräber, tödliche Spinnen, Erlösung Untoter etc) ist "Mitte" kein Horror- oder Mystery-Roman im klassischen Sinne. Vielmehr verbindet er Mystery-Elemente mit solchen des Drogen-und Großstadtromans und subtiler Gesellschaftskritik. Der Geist Igor erscheint nicht als der eigentlich Böse, sondern als ein Besessener, ein letzter Kämpfer "gegen die in die Knochen kriechende Kälte der Hauptstadtgeburt". Sein Tod steht auch für das Ende der oben beschriebenen Altstadtidylle. Mit seinem Kampf, so sympathisch dieser auch sein mag, steht er letztendlich auf verlorenem Posten. Und doch klingt im Leser etwas nach, jene Utopien und Lebensentwürfe, die über hektische Bau-und Sanierungswut im neuen Berlin allmählich verloren gehen.
Bemerkenswert ist auch die Sprache. Ohler beschwört mit einer geradezu expressionistischen Sprachgewalt eine unheimlich dichte und lebendige Atmosphäre. Während man seine Beobachtungen am Hackeschen Markt liest, spürt man richtig die Vibrationen der vorbeifahrenden Straßenbahnen, sieht das Flackern der Schweißgeräte der Gleisbauarbeiter, hört das Wummern der Techno-Musik aus der Kneipe. Einige Passagen habe ich drei-bis viermal gelesen, so sehr haben mich die intensiven Bilder gefesselt. Dies dürfte den Roman auch für Leser ohne Berlinkenntnis interessant machen. Hin und wieder schießt die Phantasie des Autors etwas ins Kraut, verlaufen Handlungsstränge ins Leere oder driften Metaphern ab ins Schwülstige. Dies wird jedoch durch witzig-sarkastische Einsprengsel kompensiert. Etwa, wenn Klinger bei seinem Job selber mehr klaut als daß er Diebe überführt. Oder wenn Japaner einen ganzen Film auf altes Gerümpel verschießen, weil in dem Zimmer mal der Nationaldichter Mori Ogai wohnte.
In einer Friedhofszene wird ein Gedicht auf französisch eingeblendet, dessen Sinn sich dem Leser erst erschließt, wenn er weiß, daß es sich um einen Auszug aus Baudelaires "Blumen des Bösen" handelt. Hier hätte ich mir eine erklärende Fußnote oder eine Übersetzung im Anhang gewünscht.
Unter all den sogenannten Berlin-und Hauptstadtromanen der letzten Jahre ist Ohlers "Mitte" herausragend, und es ist zu hoffen, daß er auch anderswo gelesen wird.