Middlesex. Roman.
Jeffrey Eugenides, Rowohlt 2003,
(Pulitzerpreis 2003)

Wer in Literaturamerika mächtigen Erfolg haben will, schreibt eindringliche, originelle, etwas abgedrehte Familiensagas. Eugenides-Intimus Jonathan Franzen hat es mit "Die Korrekturen" vorgemacht, aber auch er war natürlich nicht der erste. Irving, Updike, Roth und wie sie alle heißen: Ihre ersten großen, erfolgreichen Romane waren Familiengeschichten im direkten Sinne des Wortes (Irving: "Hotel New Hampshire", Updike: "Unter dem Astronautenmond", Roth: "Portnoys Beschwerden"), klassisch nach den Vorgaben der Creative-Writing-Gurus konzipiert, direkt, aber gleichzeitg leicht distanziert erzählt, unaufdringlich und mit sauber einkomponierten stilistischen Eigenheiten.

Ein Bergdorf in der Nähe von Smyrna, früher Griechenland, jetzt Türkei, wir schreiben das Jahr 1922. Das elternlose Geschwisterpaar Eleutherios - verwirrenderweise damals bereits "Lefty" genannt - und Desdemoda Stephanides sind sich näher, als das Geschwister sein sollten. Als der Krieg droht, das Dörfchen zu überrollen, fliehen die beiden, wie viele andere. In letzter Sekunde retten sie sich aus dem brennenden Smyrna, landen auf einem Schiff in Richtung Detroit, USA. Die Welt wird neu erschaffen; Desdemoda und Lefty nutzen die Chance, heiraten auf dem Schiff und betreten das neue Heimatland als frischgebackenes, nichtsdestotrotz inzestiöses Ehepaar. Während der Überfahrt haben sie sich im Rettungsboot der leidenschaftlich ausbrechenden Geschwisterliebe hingegeben, es Nacht für Nacht so richtig krachen lassen.

Und diese Leidenschaft trägt Früchte. Letztlich ist es die Enkelin Calliope, die den Preis für die nicht nur sittlich gefährliche Verbindung zahlt: 1960 geboren, entwickelt sich Enkelin "Callie" zunächst wie ein ganz normales Kind in der dritten Generation einer Einwandererfamilie, die sich mit Prohibition, Weltkrieg, Rassenunruhen, geschäftlichem Niedergang und Wiederaufstieg herumschlagen mußte. In den frühen Siebzigern, als das Leben funktioniert, die Familie - mehr oder minder - auf soliden Füßen steht, bewahrheiten sich die Befürchtungen der Großmutter, deren Orakel einzig bei dieser Enkelin das Geschlecht nicht vorherzusagen in der Lage war. Calliope ist ein Hermaphrodit, ein Zwitterwesen, dessen männliche Komponente im Alter von dreizehn, vierzehn Jahren ihr Recht einzufordern beginnt.

Calliope, später Cal, erzählt die Familiensaga aus der Jetztzeit, rückblickend, vermischt mit kurzen Einblicken in das Leben, daß sie - er - nun führt, in Berlin. Jeffrey Eugenides lebt übrigens selbst hier, in Schöneberg. "Middlesex" ist nicht seine Geschichte, es ist *eine* Geschichte: Umfassend, detailreich und wortgewaltig erzählt. Aber. Fundierte Kenntnisse, intensive Recherche, saubere, fast schon klinische Komposition, Wortzauber und zwingende Figurenentwürfe können nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der Roman bei aller Dichte irgendwie nüchtern anfühlt, emotionsarm. Keine der Figuren - bei Desdemoda und Lefty angefangen über die nächste Generation bis hin zu Calliope selbst - entwickelt wirklich Nähe, die Konflikte außerhalb des Kernkonfliktes sind angedeutet, faktisch, trocken. Was Franzen mit seinen - wie "Middlesex" etwas zu langen - "Korrekturen" geleistet hat und andere vor und nach ihm, ist Eugenides nicht in letzter Konsequenz gelungen.
Die Komponenten stimmen zwar, aber das Ergebnis wirkt leicht fad.


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