Little Brother. Roman.
Cory Doctorow, Rowohlt 2010


Little Brother

Weniger Freiheit erzeugt keine Sicherheit

Marcus Yallow ist ein Siebzehnjähriger, der in San Francisco lebt, mit seinen Freunden "Harajuku Fun Madness" spielt, und über exzellente Computerkenntnisse verfügt. Seinen "SchoolBook", ein modifizierter Laptop, der eigentlich nur für die Nutzung der Schulsoftware vorgesehen ist, hat er längst gehackt. Marcus, der im Netz den Codenamen "W1n5st0n" (gesprochen: Winston) trägt, wird in der Anfangsszene zum Schulrektor gerufen, über den er mehr weiß, als diesem lieb sein kann, weil Marcus/W1n5t0n ein Kind jener Generation ist, die mit Computern groß geworden ist, die also mit spielerischer Selbstverständlichkeit Technik und ihre Hintergründe verinnerlicht hat. Er ist, davon abgesehen, in dieser Hinsicht ziemlich talentiert. Aber nicht alle Hacks, die ihm der Rektor vorzuwerfen versucht, hat Marcus auch tatsächlich veranstaltet. Beweisen kann er ihm keinen.

Die Schule wird überwacht, aber da Gerichte die Gesichtserkennung gekippt haben, gibt es nunmehr "Gangerkennung": Die Software hinter den Videokameras versucht, die Gehweise der Schüler ihren Profilen zuzuordnen. An diesem vergleichsweise simplen Beispiel zeigt Doctorow gleich anfangs, wie sinnlos solche (genau genommen biometrische) Überwachung ist: Um trotz der "Gangerkennung" die Schule verlassen und gemeinsam mit drei Freunden einen "Harajuku Fun Madness"-Hotspot finden zu können, packt sich Marcus einfach ein paar Kieselsteine in die Schuhe. Minuten später stehen sie an der Bay Bridge, und dann ändert sich plötzlich alles: Was die Kids zunächst für ein Erdbeben halten, entpuppt sich als Terroranschlag - Bomben zerreißen die Brücke, es gibt viele tausend Tote. In Minutenschnelle sind die Army und das "Department for Homeland Security" (DHS) auf dem Plan. Marcus und seine Mitschüler werden festgenommen, verschleppt und anschließend tagelang verhört und gefoltert, weil sie zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Als sie in die Freiheit zurückkehren, hat sich die Bay Area in eine streng überwachte Zone verwandelt. Aber Daryll, Marcus' bester Freund, wird nicht wieder freigelassen. Und die Kids, die interniert waren, werden mit starken Drohungen davon abgehalten, über ihre Erlebnisse zu berichten. Auch Darylls Vater muss lange Zeit glauben, sein Sohn wäre beim Anschlag umgekommen.

Marcus aber will beides nicht hinnehmen, weder die Tatsache, dass Daryll verschollen bleibt, noch die Sippenhaft einer ganzen Stadt, in der plötzlich jeder zum Terrorverdächtigen geworden ist. Er ruft das "Xnet" ins Leben, ein für Überwachung unzugängliches Parallel-Internet, und organisiert den Widerstand, indem er, zum Beispiel, Leute dazu bringt, RFID-Tags zu "jammen": Die Transponderchips, die fast alle Autofahrer hinter der Scheibe haben, um die Brückenmaut unbar zahlen zu können, werden im Vorbeigehen verfälscht, wodurch plötzlich alle Bewegungsmuster "auffällig" werden. Schritt für Schritt hebelt er jene Mechanismen aus, die scheinbar auf die Spur der Terroristen führen sollen, aber eigentlich selbst nur eine Form von Terror darstellen.

"Little Brother" ist einerseits ein klassischer Heldenroman, die Geschichte eines Underdogs, der eher unfreiwillig zum Anführer wird, der die Werte, die für die Gesellschaft eigentlich essentiell und, vor allem, unveräußerlich sein sollten, auch in der vermeintlichen Ausnahmesituation gegen Regierung und insbesondere das DHS aufrechtzuerhalten versucht. Andererseits und in der Hauptsache aber zeigt das Buch den Widersinn des Kampfes oder gar "Krieges" gegen den Terror, der so, wie er organisiert ist, ein Hase-und-Igel-Rennen ohne nennenswertes (Fahndungs-)Ergebnis darstellt - vor allem ohne eines, das auch noch irgendwie im Verhältnis zum Aufwand steht. Alle Überwachungs- und Sicherheitsmaßnahmen, mit denen wir real - also außerhalb der fiktiven Romanwelt - konfrontiert werden, sind bestenfalls Makulatur, organisiert und durchgeführt von Leuten, die Sicherheit - die ohnehin niemals gewährleistet werden kann - nur suggerieren und dabei aktiv Grundrechte demontieren. Anhand von vielen Beispielen zeigt Doctorow, warum technische Strategien, die beiden Seiten bekannt sind, nur "Verdächtige" entlarven, aber so gut niemals Täter.

Er wählt als Anschlagsziel - der Anschlag selbst und seine Initiatoren spielen im Buch kaum eine Rolle - absichtlich ein "weiches" Ziel, um zunächst zu zeigen, dass die umfassende und auch von Laien leicht zu umgehende Überwachung z.B. des gesamten Flugverkehrs komplett widersinnig ist; die hiermit angeblich erkaufte Sicherheit gibt es nicht: In jüngster Zeit haben, am Rande bemerkt, viele Experten demonstriert, dass auch die inzwischen an einigen Flughäfen installierten "Nacktscanner" nur ein lächerliches Hindernis für Leute darstellen würden, die tatsächlich die Absicht haben, Anschläge zu verüben. Aber, und das ist wesentlich: Von diesen Leuten gibt es weit weniger, als uns glauben zu machen versucht wird. Eine Terrorfahndung, die, wie der Autor vorrechnet, mit einer "Sicherheit" von 99 Prozent Täter ermittelt, generiert aus "nur" einer Million Menschen zehntausend (!) potentielle Täter, aber tatsächlich ist vielleicht einer von diesen zehntausend auch wirklich ein Terrorist - und nicht einmal das ist wahrscheinlich. Die Systematik, die uns so verkauft wird, arbeitet also tatsächlich mit einer Fehlerquote von mehr als 99,99 Prozent. Auf ähnliche Weise sind fast alle Fahndungsmethoden strukturiert. Der Generalverdacht, unter dem wir allesamt seit 9/11 stehen, und der weltweit dazu geführt hat, dass Menschen in ihren Grundrechten, in ihrer Freiheit beschnitten wurden, ist die falsche Strategie. Davon abgesehen hat er die Terroristen zu Siegern gemacht, weil sie indirekt erreicht haben, dass wir aus Angst auf etwas verzichten, das wir eigentlich für unverzichtbar hielten, nämlich unsere Freiheit. Vor dem Hintergrund der Tatsache (und es ist eine Tatsache!), dass Terroranschläge faktisch eine nur äußerst geringe Bedrohung für den einzelnen darstellen, steht das Opfer, das wir hier erbringen, in keinem Verhältnis zum Nutzen - der eben sowieso sehr fragwürdig ist. Denn gerade "weiche" Ziele kann man niemals auch nur annähernd absichern. Selbst mit einer flächendeckenden Rund-um-die-Uhr-Überwachung nicht.

Der zwar etwas geradlinige, aber sehr mitreißende Roman vermittelt quasi nebenbei viele Hintergrundinformationen zur Struktur des Internets, zur Kryptographie (die, wie viele schon wieder vergessen haben, in den Neunzigern von der US-Regierung als "Waffe" verboten war), zu Mustererkennung und Rasterfahndung. Im Ergebnis zeigt er, dass das Gießkannenprinzip, nach dem die Fahnder vorgehen, viel zu grob und zu simpel ist, um jemanden, der eine entsprechende Absicht hat, auch im Vorfeld zu ertappen. Er beweist, dass Überwachung als Prävention sinnlos ist und nicht einmal der Aufklärung dient. Vor allem aber klagt er an, dass unsere Regierungen und damit auch wir alle hinnehmen, eine trügerische Sicherheit bei gleichzeitigem Verzicht auf verfassungsmäßige Rechte zu erkaufen. Der Kampf oder sogar Krieg gegen den Terror ist ein Krieg gegen das eigene Volk.

"Little Brother" ist sicher kein literarisches Meisterwerk, aber ein wichtiges und erhellendes, davon abgesehen sehr spannendes Buch zu einem Thema, das keinen kalt lassen sollte. Es ist eine Warnung und eine Anklage, ein Manifest gegen Überwachungs- und Sicherheitswahn, und es sollte als Denkanstoß vor allem von all jenen gelesen werden, die unsinnige Floskeln wie "Wer nichts zu verbergen hat, muss auch nichts befürchten" auf den Lippen führen und damit das Fundament für eine Welt legen, in der Freiheit nichts mehr bedeutet.

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