Lisa. Roman.
Thomas Glavinic, Hanser, Februar 2011
Bin gleich zurück
Als ich die ersten Seiten las, dachte ich: Jetzt dreht der Glavinic völlig ab. Vielleicht hat ihm der Verlag völlig freie Hand gelassen, nahm ich an, und der österreichische Schriftsteller hat irgendein Manuskript aus der Schublade gezogen - literarisches Experiment, das Ergebnis einer rotweinseligen Gehirnstürmrunde, diese Kategorie. Warum sonst sollte man auf die Idee kommen, den Monolog eines vermeintlichen Paranoikers aufzuschreiben - und zu veröffentlichen -, der auf einer abgelegenen bayerischen Alm im modrigen Ferienhaus hockt und per Internetradio zu vermutlich niemandem spricht?
Aber nach diesen ersten Seiten entfaltete der Roman „Lisa“ plötzlich seine unheimliche Kraft, seinen enormen Witz, seine nicht immer leise Weisheit - und zog mich hinein in die Welt von Tom, dem Spieleprogrammierer, der zusammen mit seinem Sohn Alex in die Walachei geflüchtet ist, wo er des Nachts kokst, säuft und in ein Mikrofon mit Wackelkontakt spricht. Tom erzählt sein Leben, redet über Gott und die Welt, selten politisch korrekt, dafür immer umso entlarvender, schonungsloser, wahrer, lustiger. Er berichtet auch von den Ursachen für seine Eremitage. Bei Tom ist eingebrochen worden, und durch einen Zufall wurden auch in seiner Wohnung die Genspuren jenes weiblichen Phantoms gefunden, das er und die Chefermittler Hilpert „Lisa“ nennen - eine nie gesehene Frau, die eine Spur von Tod und Verwüstung, maßlosem Grauen und außerdentlicher Brutalität durch die Welt zieht, schon seit Jahren, die aber auch bei so merkwürdigen Straftaten wie dem Raub einer Zementladung und eben dem Einbruch in Toms Wohnung beteiligt zu sein schien.
„Lisa“ ist ein einerseits Buch über Ehrlichkeit, weil es in den Randanekdoten um die vielen kleinen und großen Lügen geht, mit denen Menschen ihr Leben ausstatten, um simple Erkenntnisse, die sich niemand auszusprechen traut, um Drogen, Freundschaft, das Verhältnis von Mann und Frau, aber auch Hundekot, linksredende Rechtsdenker, Generationenphänomene und so weiter. Andererseits erzählt dieser großartige Roman jene Kriminalstory, die übrigens auf einer wahren Geschichte beruht, die die gesamte Grausamkeit der Welt, der Menschen zusammenfasst, die dem Begriff „human“ seine fade Maske vom Gesicht reißt. Wir sollten voreinander Angst haben, lautet die Botschaft. Nein, wir müssen.
Stringent, in jeder Zeile glaubwürdig, hochamüsant und zutiefst erschreckend. Glavinics bester Roman. Deutscher Buchpreis 2011, würde ich sagen.