Liebeswahn.
Roman.
Ian McEwan, Diogenes, Oktober 2000

Es sollte ein Wiedersehensfest werden - der Wissenschaftsjournalist Joe Rose hat seine Freundin Clarissa, ihrerseits Literaturwissenschaftlerin und Keats-Begeisterte, soeben nach siebenwöchiger Trennung vom Flughafen abgeholt und führt sie zum Picknick in die Hügel irgendwo außerhalb Londons. Doch gerade als es sich die beiden an einer windgeschützten Stelle bequem gemacht haben, hören sie Hilferufe. Ein Mann versucht, seinen Fesselballon zu landen, und kämpft vergeblich gegen die starken Böen. Vier Männer eilen herbei, um dem Ballonfahrer zu helfen, einer davon ist Joe Rose. Der Rettungsversuch wird ein Todesopfer fordern. Joe Rose wird anschließend von einem der anderen Helfer ersucht, angesichts der Situation gemeinsam zu beten. Verstört lehnt der atheistische Journalist ab. Aber so leicht lässt sich Jed Parry nicht abschütteln.
Ganz im Gegenteil. Aus der dramatischen Zufallsbegegnung entwickelt sich eine ständig bedrohlicher werdende Krise. Bereits in der Nacht nach dem Unglück ruft Jed Parry bei Joe Rose an, offenbart ihm seine Liebe und drängt ihn, sich seinerseits die Liebe zu Parry einzugestehen. In der Folge entwickelt sich der religiös verblendete und pausenlos von Gottes Liebe plappernde Mensch zu einem immer aufdringlicheren Stalker, während niemand außer Joe Rose selbst die Gefahr zu erkennen oder richtig einzuschätzen scheint. Clarissa und er entfremden sich, die Polizei verlacht Rose, und so wird aus einer vermeintlich lächerlichen Verblendung eine Kette von desaströsen Ereignissen. Dies geschieht, wie immer bei McEwan, auf leise, schleichende Art; der Protagonist zweifelt nicht selten an sich selbst, sucht Auswege, trifft auch Fehlentscheidungen, aber es scheint sowieso nichts geeignet, das Unausweichliche zu vermeiden. Rose steht der Situation alleine gegenüber, weil niemand dazu bereit ist, ihm zu glauben. Parry hingegen entwickelt immer mehr Cleverness und Selbstsicherheit. Diese zuwiderlaufenden Entwicklungen sind Kern der Handlung; Roses Weltbild wird nachhaltig erschüttert, während alles auf einen ebenso nachhaltigen Triumph des gottesfürchtigen Stalkers hindeutet.
Das Buch erzählt also von der verblendeten Liebe eines Mannes für einen anderen, davon, wie Zeichen gedeutet werden, die keine sind und nie als solche gedacht waren, wie alleine der Glauben an eine Sache diese zur Wirklichkeit werden lässt, zu singularen, persönlichen Wirklichkeit, die nichtsdestotrotz Basis des Handelns wird und sich aller störenden Faktoren notfalls auch gewaltsam entledigt. Es ist deshalb auch nur vordergründig ein Buch über die als De-Clérambault-Syndrom bekannte Erotomanie, die heutzutage "Stalking" genannt wird, sondern vor allem eines über den Widerstreit zwischen naturalistischer und religiöser Weltsicht, wobei McEwan zwar eindeutig Partei ergreift, aber auch die Position zu relativieren bereit ist, für die er offenbar eintritt. Diese Position übernimmt Roses Freundin Clarissa, die den nüchtern-analytischen Journalisten immer wieder dazu drängt, eine ganzheitlichere Sicht auf die Phänomene zuzulassen, über die er schreibt.
Anfangs etwas spröde, gewinnt das Buch rasch an Intensität, Dramatik und Spannung. McEwan gehört fraglos zu den größten Romanciers unserer Zeit, und mit "Liebeswahn" ist ihm eine subtile und zwingende Erzählung von enormer Dichte gelungen.

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