Sieben verdammt lange Tage. Roman.
Jonathan Tropper, Knaur, August 2010
Eine verdammt kurze Nacht
Troppers letzter Roman "Mein fast perfektes Leben" hat mich enttäuscht - larmoyant, wehleidig und ziemlich unglaubwürdig kam die Story daher. Der Autor des wirklich hinreißenden "Stadtfeind Nr. 1" verlor mich fast als Leser, weil er offenbar aus einem Thema eine Geschichte zu machen versucht hatte, statt eine Geschichte mit einem Thema zu erzählen. Immerhin, ich gab ihm noch eine Chance. Und ich habe es nicht bereut. Ganz im Gegenteil.
18.47 Uhr: Das Abendbrot ist vertilgt, das neue Buchpaket wird ausgepackt. Schön, endlich ist Steinfests letzter "Cheng"-Roman erschienen, der aktuelle Pratchett ist leider noch nicht dabei, und das Sachbuch werde ich an einem verregneten Wochenende (die es derzeit im Überangebot gibt) lesen. Also - Tropper. Das Cover wirkt ein wenig lieblos, der Klappentext ist kurz und vermittelt eher Distanz, als für den Roman zu werben. Was soll's.
21.23 Uhr: Ich unterbreche die Lektüre kurz für einen Gang ins Badezimmer, und zwar wirklich ungerne.
05.47 Uhr. Ich bin durch. Und würde am liebsten gleich wieder von vorne anfangen.
Judd Foxmann ist Mitte dreißig und arbeitet als Produzent für den ruppigen, sexistischen Radiostar Wade. Der hat seit über einem Jahr ein Verhältnis mit Judds Ehefrau Jen, wie dieser in einer fast schon klassischen Szene herausfindet, nämlich beim verfrühten Nachhausekommen. Aber er hat kaum Zeit, die Ereignisse zu reflektieren, denn er muss nach Elmbrook, ins Haus seiner Eltern, da Judds Vater nach langer Krankheit verstorben ist, und der letzte Wille des Agnostikers war angeblich, dass die Familie der jüdischen Tradition entsprechend Schiwa sitzen soll. Also finden sich Judd, der jüngere Bruder Philipp, der ältere Bruder Paul und die Schwester Wendy ein, um im Haus der Mutter, einer sich energisch gegen das Altern wehrenden Psychologin, auf niedrigen Stühlen zu hocken und Scharen von seltsamen Trauergästen zu empfangen - Nachbarn, Verwandte, Freunde, Geister aus der Vergangenheit, partnersuchende Witwer und Mütter, die ihre Mauerblümchen-Töchter mit Judd verkuppeln wollen.
Die Foxmans sind eine Familie, die es schon immer verstand, Emotionen mit Ironie und Sarkasmus zu kaschieren. Weil die Mutter sämtliche Ereignisse für ihre erfolgreichen Erziehungsratgeber nutzte und ihre heranwachsenden Kinder ins Licht der Öffentlichkeit zerrte, entwickelten diese ihre Gegenstrategie. Spitzfindigkeiten, Neckereien und kleine Lügen wurden zum Panzer gegen den vermeintlich gefühlskalten Vater und die okkupierende, wissbegierige Mutter. Aber auch zwischen den Geschwistern kriselte es nicht selten. Pauls Ehefrau Alice war früher mit Judd zusammen, und der schwere Unfall, der Pauls Baseballkarriere beendete, ging teilweise auf Judds Konto. Auch das Enfant Terrible, Philipp, hat sein Päckchen zu tragen, versucht sich aber gerade daran, seriös zu werden, unter anderem mit Hilfe einer sehr viel älteren Frau. Und Wendys Ehemann Barry interessiert sich mehr für die Wall-Street als für die Ehefrau und die drei Kinder. Außerdem ist da noch Horry, der seit einer Schlägerei behinderte Nachbarssohn, der immer noch in Wendy verliebt ist.
Und nun sollen sie sieben Tage lang aufeinanderhocken, diese Familienmitglieder, die sich vorher lieber aus dem Weg gegangen sind. Als Ich-Erzähler plaudert Judd über die gemeinsame Vergangenheit, die eigene Ehe, Wünsche, Träume, Liebe, Sex und das Vatersein. In den Schiwa-Pausen besucht er die Jugendliebe Penny, die aus dem faden Elmbrook nicht herauskommt und von einem Unglück ins nächste stürzt. Auch die Wiederbegegnung mit Judd wird nicht schön für beide enden, denn Judd ist immer noch in Jen verliebt, die er gleichzeitig hasst und verachtet. Bis sie auftaucht, um ihm zu erklären, dass sie ein Kind von ihm erwartet. Das zweite. Das erste Kind hat sich kurz vor der Geburt mit der Nabelschnur stranguliert.
Jonathan Tropper ist mit diesem Roman eine unglaublich empathische, mitreißende, wundervoll erzählte, lakonisch-tragikomische Geschichte gelungen. Es macht großen Spaß, dem hin- und hergerissenen Judd zu lauschen und mitzuerleben, wie er die Ereignisse wahrnimmt und kommentiert, wie er nach Jahrzehnten den Blick auf die eigene Familie ändert, wie er versucht, für sich einen Weg zu finden und gleichzeitig feststellt, dass es den anderen eigentlich nicht viel besser geht. Die Figuren sind liebevoll und glaubwürdig gezeichnet, die Entwicklung ist spannend, überraschend, und wirkt niemals an den Haaren herbeigezogen. Vor allem aber die Erzählstimme beeindruckt. Judd ist zynisch, auf seine Art aber auch weise, was er zuweilen nicht selbst erkennt, zugleich voller Mitgefühl, Unsicherheit und Lebensgier, dabei ein fantastischer Beobachter und jemand, dem man einfach sehr gerne zuhört. Jetzt darf Tropper wieder zwei schlechte Romane abliefern - aber er muss nicht.
Nächster Tag, 19.21 Uhr: Ich könnte jetzt Steinfest lesen. Aber noch mal Tropper ginge eigentlich auch ...