Das Labyrinth der Wörter. Roman.
Marie-Sabine Roger, Hoffmann und Campe 2010


Das Labyrinth der Wörter

Das Märchen vom Proleten und der Bildungsbürgerin

Der fünfundvierzigjährige Germain ist meistens arbeitslos, lebt in einem Wohnwagen auf dem Grundstück seiner Mutter, verbringt seine Zeit in der Kneipe oder bei Annette, mit der er Sex hat und nichts weiter. Gelegentlich geht er in den Stadtpark, um seinen Namen auf das Gefallenenmahnmal zu kritzeln und anschließend die Tauben zu zählen, denen er Namen gegeben hat. Auf diese Art lernt er Margueritte kennen, eine kleine, alte Dame, die auf "seiner" Parkbank sitzt und auch die Vögel zählt. Der Unterschied zwischen den beiden könnte ansonsten nicht größer sein: Sie ist eine elegante, belesene Omi, und Germain ist ein grobschlächtiger, egozentrischer, des Lesens gerade so fähiger Packer, der nur "schaut", aber nie "beobachtet", wie Marie-Sabine Roger behauptet.

Es kommt, wie es kommen muss. Oder wie sich der etwas weltfremde Bildungsbürger das so vorstellt. Margueritte nimmt den stämmigen Proleten unter ihre Fittiche, begeistert ihn zuerst für Camus, dann für das Lesen allgemein, und führt ihn schließlich in das "Labyrinth der Wörter", manifestiert in einem Wörterbuch, dessen viele Querverweise niemals enden, aber mit viel Wissen belohnen. Am Ende ist Germain nicht nur sehr viel klüger, nein, er beobachtet auch, verblüfft seine Kneipenkumpels mit Wörterbuchschlauheiten und stellt sogar fest, dass er für Annette eigentlich Liebe empfindet, worauf konsequent der Kinderwunsch folgt.

"Das Labyrinth der Wörter" ist ein Märchen, angelehnt an dasjenige vom Aschenputtel. Unter Germains rauer Schale steckt Potential, und die Autorin versucht uns weiszumachen, dass man dieses Potential nur sanft anregen muss, um eine verblüffende Metamorphose einzuleiten. Im Buch gelingt das natürlich vortrefflich, schließlich war es die böse (aber eigentlich ihrerseits nur häufig benachteiligte) Mutter, die verhindert hat, dass Germain zu jener wundervollen Pflanze heranwachsen konnte, die Margueritte spät aus dem verwachsenen Etwas herausschälen muss. Die Botschaft ist so klar wie simpel: Wenn man die sozial Schwachen, wenig Gebildeten für Kultur allgemein und Weltliteratur im besonderen begeistert, werden sie zu handzahmen Feingeistern. Man muss sich nur Mühe geben.

Das wäre zwar wünschenswert und mag sogar stimmen, vielleicht nicht einmal nur in Einzelfällen. Aber in diesem vorhersehbaren und deshalb über weite Strecken sehr langweiligen, zwanghaft belehrenden Märchen funktioniert es nicht. Wenn man einen Blick auf das Autorinnenbild im Schutzumschlag wirft, entsteht eine Idee davon, was in ihrem Kopf vorgegangen sein mag, als sie dieses Buch konzipiert und geschrieben hat. "Das Labyrinth der Wörter" ist ein bildungschauvinistisches Manifest, ein überaus snobistisches Traktat über eine Welt, die es so nicht gibt, die sich der weltfremde Edelakademiker aber wünscht, oder zu wünschen vorgibt. Dabei schwingt stark erkennbar die Hoffnung mit, dass es bitteschön doch nicht so kommen möge. Marie-Sabine Roger wirkt dieserart wie eine C-Prominente, die sich beim Überreichen der Geldspende in einem Ghetto fotografieren lässt und danach im Privatjet zurück in die Reichenkolonie fliegt. Zudem ist das ganze auch noch aus Germains Sicht und in dessen Sprache erzählt, was nicht selten unfreiwillig komisch, mindestens aber absolut unauthentisch wirkt. Ein ärgerliches Buch.

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