Die Korrekturen.
Roman.
Jonathan Franzen, Rowohlt 2002


Die "Frankfurter Allgemeine" schrieb, wie auch auf dem Buchumschlag zitiert wird: "Ein Roman, der die Mehrzahl der Leser glänzend unterhält, ohne die Minderheit zu unterfordern." Geschlagene fünf Minuten habe ich den Wälzer in den Händen gehalten und überlegt, ob ich nicht alleine wegen dieses ärgerlichen Zitats auf die Lektüre verzichte. Aber um manch ein Buch kommt man einfach nicht herum, und nachdem Franzen in den Vereinigten Staaten auf eine Art Furore gemacht hat, die zuletzt der Clinton-Story "Mit aller Macht" (allerdings aus anderen Gründen) gelungen ist, stürzten sich auch in Deutschland so viele Käufer auf das Werk, daß bereits mit den Vorbestellungen Platz zwei der Belletristik-Charts erreicht war. Ich kaufte, und schluckte den Ärger über den FAZ-Rezensenten herunter. Und über den Verlagsredakteur bei Rowohlt, der diesen Dummfug auch noch auf den Einband
drucken ließ.

Literaturkritik kommt ohne Vergleiche nicht aus. Der Klappentext bezeichnet Franzen als "das größte Sprachtalent seit Updike". Meines erachtens wird damit *einigen* Autoren Unrecht getan, auch solchen, die zwischenzeitlich Pulitzerpreise und National Book Awards eingesackt haben, aber nicht nur diesen. Andererseits ist auch nachvollziehbar, daß die Kritik angesichts des enormen Erfolges - mehrere Millionen verkaufter Exemplare in den Vereinigten Staaten - nach Erklärungen sucht, insbesondere, da es sich offensichtlich um ein ambitioniertes Buch handelt, also ein Werk weit jenseits des Clancy-, King- und Sheldon-Mainstreams, der sonst für hohe Verkaufszahlen sorgt.

Enid und Al Lampert leben im Mittelwesten der Staaten, Sohn Gary mit seiner Frau und drei Kindern in Philadelphia, wo auch Lampert-Tochter Denise ihr Restaurant betreibt. Sohn Chipper, genannt "Chip", logiert in New York, nachdem er seine
Dozententätigkeit für vergleichende Literaturwissenschaften an einer angesehenen Uni aufgeben mußte, kurz vor der Berufung zum Professor; der Flirt mit einer Studentin ließ die Karriere knicken, seitdem versucht sich Chip erfolglos als Drehbuchautor, arbeitet für eine Indie-Zeitschrift namens "Warren Street Journal", woraus Enid in ihren Erzählungen bei Nachbarinnen und Bekannten gerne "Wall Street Journal" macht, seine Aushilfstätigkeit in einer Kanzlei wird auf diese Art zur juristischen Laufbahn. Enids Maßstab für das Funktionieren der Familie ist der äußere Eindruck. Demgegenüber hat Al seine sehr eigenen Prinzipien, ist ein despotischer Patriarch, und eigentlich auch ein Misanthrop, trifft alle Entscheidungen selbst und duldet keine Diskussionen, auch im hohen Alter nicht, als der Parkinson seine Hände flattern läßt und Trugbilder den Nachtschlaf verseuchen. Gary, früher der Vorzeigesohn, steht demgegenüber einer Familie vor, die ihn nach allen Regeln der Kunst mißachtet, die seine Harmonisierungsbedürfnisse aushebelt und die situative Fraktionenbildung perfekt beherrscht, während Gary zu manischen
Depressionen tendiert, seine Selbstbeobachtung zum Lebenszweck erhebt und an jeder Front des Familienkleinkrieges scheitert. Denise, das hübsche Lampert-Töchterchen, trifft ihrerseits eine Fehlentscheidung nach der anderen, beginnt Verhältnisse mit verheirateten Männern oder heiratet selbst - zur rasch vorübergehenden Freude der Eltern, denn der Erwählte ist ein kleiner, wenig dem Idealbild der Eltern (große, vorzugsweise aus Skandinavien stammende Männer) entsprechenden jüdischer Koch, von dem sie sich zu allem Überfluß rasch wieder scheiden läßt.
Enids großer Wunsch ist, die Familie ein letztes Mal zu Weihnachten in St. Jude zu versammeln; der Roman erzählt letztlich die Vorgeschichte dieses Weihnachtsfestes, aber auch und insbesondere alle persönlichen Schicksale, das Werden und Vergehen der Familie Lampert, das Bemühen und Scheitern aller einzelnen, insbesondere das Scheitern jedes Familienmitgliedes daran, Fehler in der eigenen Sozialisation später - an sich oder den eigenen Kindern - zu korrigieren. Daher der Titel des Buches.

Jede Figur in diesem Buch *hat* ihre Geschichte, sogar jede Nebenfigur. Was zu Beginn enorm empathisch wirkt, überschreitet dieserart gelegentlich die Grenze zur stoischen Akribie, was die anfängliche Stringenz des Romans nach und nach zerfasert, denn die Wichtung der vielen Einzelgeschichten stimmt nicht. Einige ermüden oder langweilen, insbesondere, wenn die Botschaft - der Vergleich zur Entwicklung der Hauptfiguren - angekommen ist und keiner weiteren Erklärung bedürfte. Die Begründung hierfür liegt darin, daß Franzen augenscheinlich vermeiden wollte, die Familienmitglieder zu überfrachten, woran er auch wohlgetan hat - alleine, die fünfhundert Seiten, die das Buch auf *diese* Art ergeben hätte, hätten auch genügt. "Die Korrekturen" ist feinfühlig und sorgsam verfaßt, mit viel Achtsamkeit für die eigenen Figuren, was insbesondere aufgrund ihrer auch amüsanten, aber nie
ausgeweideten Schwächen keine leichte Aufgabe gewesen sein wird. Sprachlich beeindruckt das Buch insbesondere in der ersten Hälfte, ist hier nicht selten absolut brillant, verfügt über einen hohen Wiedererkennungswert, was sicherlich auch einer der Gründe für den Erfolg ist. Aber es schwächelt andererseits daran, daß die Metageschichte des Romans nach und nach verwischt, daß sich die Figuren selbst wiederholen und nach gut der Hälfte eigentlich alles erzählt ist.



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