Wir müssen über Kevin reden. Roman.
Lionel Shriver, List 2007
Briefromane fasse ich eigentlich nicht einmal mit der Kneifzange an. Es hat sich mir nie erschlossen, welche besondere Funktion dieses Stilmittel haben soll, zumal es meist sehr unglaubwürdig eingesetzt wird - die Briefe in solchen Büchern lesen sich nie wie solche, die echte Menschen tatsächlich verfasst haben könnten.
Eva schreibt Briefe an ihren Ehemann, und in diesen Briefen thematisiert sie die Ehe, die Vorgeschichte dieser Ehe, ihre Wünsche und Träume, ihre eigene und die gemeinsame Geschichte. In der Hauptsache jedoch geht es um Kevin, den Erstgeborenen, der keinesfalls ein Wunschkind war, jedenfalls aus Evas Sicht, und der sich nach und nach als bösartiger Mistkerl herausgestellt hat. Kevin hat es bereits als Kleinkind verstanden, Eva in die Enge zu treiben, sie zu verängstigen und zu verletzen, und als er älter wurde, weitete er diese Eigenart auf sein gesamtes Umfeld aus. Aber der Ehemann wollte nicht wahrhaben, wes Geistes Kind der Sohn war, und so führte das wenig traute Familienleben schließlich in die Katastrophe: Kevin richtete ein Massaker an der Schule an, einen jener Amokläufe im Stil von "Columbine". Während Eva die Briefe schreibt, sitzt der Junge im Gefängnis. Wo der Vater und die später - zu Evas großem Glück - geborene Tochter sind, erfährt der Leser erst am Schluss. Als eine Art Pointe, wenn man so will.
Über dieses wortmächtige und manchmal sehr intellektuelle Buch ist viel gesagt worden. Ich glaube nicht, dass es sich um einen Roman über Kindesentwicklung, Erziehung oder ähnliches handelt, und es ist auch keine Parabel auf die amerikanische Gesellschaft. "Wir müssen über Kevin reden" ist in erster Linie ein sehr cleverer Thriller, in dessen Vordergrund jene Frau steht, die als einzige erkannt hat, welche Gefahr bevorsteht, ohne auch nur die Chance zu haben, einzuschreiten. Die Angst vor dem Unausweichlichen, das dem Leser - jedenfalls teilweise - längst bekannt ist, schwebt über der nicht immer spannenden Handlung, die Unfähigkeit des Ehemannes, der in seiner aufgesetzten Liebe zum missratenen Kind zu keinem Blick über den Tellerrand fähig ist, stellt den Widerpart dar.
Eva, ihr Mann und Kevin sind fiktive Figuren. Der Sohn, der das Böse verkörpert, oder es zumindest verinnerlicht hat, die hilflose Karrierefrau, gefangen in einer mediokren Vorstadtwelt, der betriebsblinde Ehemann - all das liest sich gut, ist sprachlich exzellent aufbereitet, nur manchmal etwas langatmig und am Ende vielleicht ein wenig zu effektheischend. Aber es ist ein Roman, kein Tatsachenbericht, keine Biographie. Es ist eine originelle Aufarbeitung der Thematik, einer Thematik, die manchmal ein wenig diffus wirkt, sich aber keinesfalls auf Schlagwörter wie "Erziehung", "Waffenbesitz" oder "Highschool-Massaker" eindampfen lässt. Ein gutes Buch, obwohl es ein Briefroman ist, oder vielleicht genau deswegen, aber nicht mehr und nicht weniger. Empfehlenswert, ja, aber nicht wirklich ein Beitrag zu irgendeiner tagespolitischen Diskussion.