Jesus von Texas. Roman.
DBC Pierre, Aufbau-Verlag 2004

Im vergangenen Frühjahr quälte Elke Heidenreich Nick McDonnells "Zwölf" in die Bestsellerlisten; die Literaturgemeinde ihrerseits quälte sich mit diesem oberflächlichen, pubertierenden und belanglosen Roman, versuchte das menschenmögliche, dem mageren Büchlein eines immerhin erst Siebzehnjährigen Authentizität abzugewinnen, zog Schlüsse, mühte sich mit politischen, sozialen, pädagogischen Vergleichen. Aber der Roman blieb, was er ist: Ein müdes, aufgesetztes, gezwungen cooles, nihilistisches Traktat knapp über Schulaufsatzniveau. Doch es ist Land in Sicht, dann das Versprechen, das "Zwölf" zu geben schien, hält "Jesus von Texas" umso mehr ein.

DBC steht für "dirty, but clean" - der Autor ist kein adeliger Franzose, sondern ein rechtschaffen abgedrehter, zweiundvierzigjähriger Amerikaner, dessen Vita sich wie die einer Figur aus "Reservoir Dogs" liest. Pierre a.k.a. Peter W. Finlay hat einiges auf dem Buckel, zuletzt einen schweren Autounfall, dem eine Gesichtsoperation folgte - also Krönung, sozusagen. Seine Vita läßt nichts aus - Filmproduzent, Schmuggler, Betrüger. Die Einnahmen aus "Jesus von Texas" (OT: "Vernon God Little"), das den britischen Booker-Price 2003 - verdient - gewann, sollen auch dazu dienen, einigen der früheren Opfer Schadenersatz zu zahlen.

Martirio, Texas, ist das, was man gemeinhin ein "elendes Pißnest" nennen würde. Irgendwo in der Wüste hocken ein paar Leute aufeinander, die mehr oder minder alle miteinander verwandt sind, die sich gegenseitig in die Wohnzimmerfenster starren, großes Vergnügen daran haben, die kleinen Niederlagen der anderen beobachten zu dürfen, über die neuesten Diäten schwatzen, während sie tonnenweise Futter von "Bar-B-Chew Barn" verputzen, auf die "Special Edition" der neuesten Kühl-Gefrier- Kombination warten, rund um die Uhr fernsehen und ansonsten so tun, als wäre alles im Lot. Bis Jesus, der fünfzehnjährige Outsider, seine Knarre nimmt und sechzehn
Mitschüler massakriert, schließlich auch sich selbst. Vernon Little, bester Freund des ansonsten wenig geliebten Jesus, überlebt das Unglück, weil ihn seine Inkontinenz dazu zwingt, im Busch ein Häufchen zu machen. Das piefige, uramerikanische Nest wird gehörig durchgewirbelt - und Vernon zur Zielscheibe der Medien, zum Ventil für den aufgestauten Kleinstädterhaß, während die Bewohner ihr bestes geben, um das belanglose, spießige Leben aufrechtzuerhalten.

Der Junge mit dem "Problem", auf das seine alleinerziehende, prollige Mutter im rechten Moment hinzuweisen weiß, eine der "offenen Wunden im Rücken, die wir alle mit uns herumtragen", muß als Sündenbock ("Sündenlok", wie er es nennt) herhalten, weil sich der eigentliche Täter selbst gerichtet hat, der Mob aber trotzdem Vergeltung fordert. Eine Odyssee durch Kleinstadtknäste, stinkende Überlandbusse, die mexikanische Grenze und reichlich skurille Nebenschauplätze beginnt, die schließlich in
der Todeszelle zu enden scheint. Vernon weiß kaum, wie ihm geschieht, bis fast zuletzt glaubt er daran, daß die Wahrheit ans Licht kommen wird, weil das in den Filmen, der primären Sozialisationsmaßnahme *aller* Amerikaner, auch immer passiert. Aber er hat die Rechnung ohne die Apathie seiner Mitbürger gemacht, die Teilnahmslosigkeit selbst seiner eigenen Mutter, der die Worte des abgehalfterten Reporters, der sich bei ihr eingenistet hat (Eulalito Lesdema - eine fantastische Nebenfigur), weit mehr bedeuten, als die Unschuldsbeteuerungen des eigenen Sohnes. Vernons Spießrutenlauf gerät zum Medienereignis, als Sahnetüpfelchen werden
die Mitbürger per TED darüber abstimmen dürfen, welcher Insasse des Todestraktes zuerst auf die Bahre geschnallt wird.

DBC Pierre bohrt intensiv in der Rückenwunde aller Amerikaner, ihrer Selbstzufriedenheit, Arroganz, Weltfremdheit, Intoleranz, ihrer aufgesetzten Gottesfürchtigkeit und medialen Zentrierung - und er leistet das weitaus besser, als etwa Michael Moore mit seinen flachen, halbsatirischen Sachbüchern, die keine sind - oder McDonnell in seinem fadenscheinigen New Yorker Jugendidyll, dessen Figuren so glaubhaft wirken wie die Besetzung von "Beverly Hills, 90210".
Weil Pierre ein unschuldiges Kind mitten in die gefräßige Maschinerie des Post-Prä-Bush-American Way of Life stößt und einen Fünfzehnjährigen staunend, manchmal
larmoyant, hautpsächlich aber uramerikanischen - längst vergessenen - Idealen folgend durch eine Szenerie stolpern läßt, aus der man ihn als Leser um jeden Preis
herausholen möchte, weil die schreiende Ungerechtigkeit, die gnadenlose Tumbheit und die abgebrühte, hochdumme Ignoranz einfach nicht obsiegen dürfen. Hätte man eine Knarre, würde man es Jesus gleichtun - und das ist kein zweifelhafter Schluß, sondern eine zwingende Konsequenz.

Ein mordsböses, bravouröses, atemloses, rasantes, toll geschriebenes und brüllend komisches Buch, das an keiner Stelle das eigene "Para-Dickma" aufgibt und ein
Amerika zeichnet, das grausiger nicht sein könnte: Das wahre Amerika eben. Ein Hammer. Kaufen, kaufen, kaufen!

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