Ilium. Roman.
Dan Simmons, Heyne 2004

Auf dem Schlachtfeld vor Troja, das auch "Ilium" genannt wurde, tobt der Krieg. Die Götter um Zeus, allen voran Aphrodite, Apollo und Pallas Athene, beobachten das Geschehen, aber sie greifen auch ein, wenn die jeweiligen Favoriten in Bedrängnis geraten - Achilles, Agamemnon, Odysseus, Paris, wie sie alle heißen, die strahlenden,
gewaltigen, schönen Helden, die Homer in seinen "Iljas"-Gesängen geschildert hat. Ob das Geschehen auch jener literarischen Vorgabe entspricht, das beobachten die Scholiker - Historiker, die, wie sie selbst glauben, aus ihren jeweiligen Zeiten auf den legendären Kriegsschauplatz versetzt wurden, um Zeus, Aphrodite oder einer Muse
Bericht zu erstatten, ihnen aber niemals zu verraten, wie sich die Geschichte entwickeln wird. Einer von ihnen ist Thomas Hockenberry, ein Professor aus dem zwanzigsten Jahrhundert, der mit Sehkraftverstärkern, der Fähigkeit, sich in andere Figuren zu verwandeln und einigen weiteren technischen Gimmicks ausgestattet auf
den Schauplätzen ein- und ausgeht, um anschließend den Göttern Berichte abzuliefern. Neun Jahre ist er bereits dabei, als Aphrodite beschließt, ihn zum Spion zu machen - er bekommt den legendären Helm des Hades und ein kleines Medaillon, das ihn ruckzuck von einem Platz zum anderen quantenteleportiert - längst nicht der einzige technische Schnickschnack, mit dem die Götter ihre Helden und Gehilfen manipulieren. Aber Hockenberry entwickelt andere Pläne ...

Auf den Monden des Jupiter leben seltsame, organisch-technische Roboter, die sich selbst "Moravecs" nennen - empfindsame, intelligente, literaturverliebte Androiden, unter ihnen "Mahnmut", der Shakespeare-Fan, und "Orphu von Io", der Proust-Verehrer, die vom "5 Monde Konsortium" gemeinsam mit anderen auf eine Expedition zum
Mars geschickt werden, weil dort seltsame, bedrohliche Aktivitäten stattzufinden scheinen. Die Expedition scheitert fast, nur Mahnmut und Orphu überleben, letzterer schwer verletzt, besser: beschädigt - trotzdem versuchen sie, das Ziel zu erreichen, den Olympus Mons, jenen 23 Kilometer hohen Vulkan, von dem die besorgniserregende Quantenaktivität auszugehen scheint. Bereits im Orbit des Planeten werden sie von einem seltsamen Gefährt angegriffen: Einem altgriechischen Streitwagen ...

Die Erde wird nur noch von wenigen Menschen bewohnt, einigen hunderttausend, die fortwährend auf Parties gehen, sich zu geselligen Anlässen treffen, aber nicht mehr lesen oder schreiben können und wenig über sich selbst wissen - sie sind die Nachfolger der sogenannten NachMenschen, die, wie geglaubt wird, in den Orbitalringen leben, wo sich auch "die Klinik" befindet, in die die Erdbewohner alle zwanzig Jahre gerufen werden, um eine Art Generalüberholung zu erfahren, oder von Fall zu Fall, etwa, wenn sie zufällig von einem der wiederbelebten Dinosaurier zerfleischt werden. Nach fünf Zwanzigern werden die Menschen nicht mehr aus der Klinik zurückkehren, sondern auf ewig bei den NachMenschen bleiben, so glaubt man jedenfalls. Bis dahin sorgen automatische Servitoren und sogenannte "Voynixe" für Wohl und Sicherheit der wissensarmen Menschen, die kaum ein paar Schritte zu Fuß gehen und nur jene Plätze auf der Erde aufsuchen, die per "Fax" zu erreichen sind. Eine kleine Gruppe um den 99jährigen, nichtsdestotrotz jugendlichen Harmann, der sich mühevoll das Lesen beigebracht hat und nicht so recht glauben will, daß er in einem Jahr zu den Ringen aufsteigen wird, macht sich auf die Suche nach einer Erklärung. Sie entdeckt schreckliche Zusammenhänge ...

Eine Warnung vorab: Auch diese 800-Seiten-Schwarte ist "nur" ein erster Teil, der zwar auf einen fulminanten Showdown hinarbeitet, aber all die wundersamen Verbindungen, Hintergründe und Verstrickungen (noch) nicht erklärt - etwa, warum sich Prospero in den Orbitalringen versteckt, wer die Götter wirklich sind, warum alle
trojanischen Helden wie Archetypen aussehen, aus welcher Zeit die Scholiker tatsächlich stammen. Simmons baut in diesem grandiosen, sehr anspruchsvollen Science-Fiction-Epos eine Vielzahl von Haupt- und Nebenhandlungen auf, die durch einen literaturgeschichtlichen Kontext verbunden zu sein scheinen, denn irgendwie hat jede Figur ein Vorbild oder eine Geschichte, die aus großen Werken bekannt zu sein scheint. Aber vielleicht ist auch alles ganz anders ... wie genau, das erfährt man (noch) nicht, aber eine leise Ahnung tut sich auf.

"Ilium" ist sicher kein Stoff für nebenbei, keine handelsübliche SF-Kost, sondern ein großer, dichter und nicht eben leicht konsumierbarer Roman, der seinen Leser fordert und dessen Lektüre etwas einfacher sein dürfte, wenn die Zusammenhänge zumindest erahnen kann, einige Namen einordnen und einige Figuren verstehen. Ein überaus intelligentes, toll komponiertes, sehr fesselndes Buch über Literatur, Technik, Selbstbestimmung und geschichtliche Zwänge - und vermutlich über noch viel mehr ... großartig.

Das Buch bei Amazon

zurück

Übersicht: Tom Liehr

©Tom Liehr - http://www.tom-liehr.de - Kontakt