Die Eleganz des Igels. Roman.
Muriel Barbery, dtv 2009


Die Eleganz des Igels

Begeisternd

Im Parterre des noblen Pariser Mehrfamilienhauses residiert Renée, die seit fünfzehn Jahren verwitwete, vierundfünfzig Jahre alte Concierge. Nach außen genügt sie bewusst allen Klischees, füllt ihr Berufsbild erwartungsgemäß aus: Sie ist ein bisschen ruppig, kleidet sich der Rolle entsprechend, spricht in knappen, zuweilen absichtlich fehlerhaften Sätzen, achtet bei ihren Einkäufen darauf, dass zuoberst in den Tüten Waren zu liegen kommen, die man im Haushalt einer Concierge erwarten würde, also deftige Hausmannskost und ähnliches. Die deshalb leicht überfettete Katze muss derlei dann verspeisen.
Aber Renée ist eigentlich extrem schlau, belesen und überaus kulturinteressiert. Sie nimmt ihre Umgebung wahr, achtet auf feine Nuancen, kommentiert für sich, weiß einzuordnen. Sie kennt die Klassiker der Weltliteratur fast auswendig, versteht die großen Philosophen, liebt die bildende Kunst und die Musik. Die Küche ihrer Concergienloge ist das Refugium, in das sie sich zurückzieht, während im Wohnzimmer der Fernseher so laut läuft, dass die zumeist ziemlich von sich eingenommenen Bewohner denken müssen, Renée würde sich dumme Serien ansehen. Wenn sie sich überhaupt für die Frau im Parterre interessieren. Die Concierge liest währenddessen Camus, Tolstoi oder philosophische Bücher.

Einige Stockwerke darüber lebt Paloma, die hochintelligente Zwölfjährige, die beschlossen hat, sich an ihrem dreizehnten Geburtstag das Leben zu nehmen, wenn bis dahin nicht noch etwas geschieht, das sie davon überzeugt, dass das Leben etwas über alltägliche "Normalität" und Standesdünkel hinaus zu bieten hat. Auch Paloma führt ein Doppelleben, seit sie bemerkt hat, dass zu viel Intelligenz andere - auch solche, die sich selbst für klug halten - nur verstört.

Dann stirbt einer der Hausbewohner und der Japaner Kakuro Ozu bezieht die vakante Wohnung. Der ältere Herr strahlt gelassene Eleganz aus, scheint aber ein aufmerksamer Beobachter und Feingeist im Wortsinn zu sein. Und so ist es auch Ozu, der schnell entdeckt, dass Renées Verhalten nur Fassade ist. Auf sanfte Art gibt er ihr zu verstehen, ihre Maskerade entlarvt zu haben - zwischen den beiden entsteht Freundschaft mit der Aussicht auf mehr. Und auch Paloma wird aus ihrer Eremittage gelockt.

"Die Eleganz des Igels" ist ein sehr kluges, einfühlsames und fesselnd erzähltes Buch, das aus Sicht der Concierge und der zwölfjährigen Botschaftertochter davon berichtet, wie es ist, Bestandteil sozialer Strukturen zu sein, denen man sich nicht zugehörig fühlt. Der Roman bricht eine Lanze für die Schönheit der Kunst, in der man einen Lebenssinn finden kann, ohne sich zu verleugnen. Er ist philosophisch, manchmal sogar weise, unglaublich schön geschrieben und begeistert von der ersten bis zur letzten Seite. Gelegentlich mag sich sogar ein Leser, der sich selbst für gebildet hält, etwas belehrt fühlen, aber das geschieht augenzwinkernd und ohne jede Effekthascherei. Das Ende ist zwar tragisch, aber konsequent, und es ändert nichts daran, dass man gerade einen der wundervollsten Romane der letzten Jahre gelesen hat.

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