Die Hyperion-Gesänge. 2 Romane.
Dan Simmons, Heyne 2002
Vor mit steht ein Gerät, von dem ich nicht weiß, welche Funktionen es hat, wozu es gut sein soll. Halb so wild, ich besitze eine Gebrauchsanleitung. Aber leider erklärt die auch nicht, was das Ding macht, schlimmer noch, sie verlangt mir Wissen ab, über das ich nicht verfüge: "Verpongen Sie die kragnativen Konöpcken, um den optionalen Wirbelzuster zu aktivieren." Klar doch.
So - oder sehr ähnlich - kam ich mir während der ersten zwei-, dreihundert Seiten von "Hyperion" vor, dem ersten Teil der "Hyperion-Gesänge", die glücklicherweise als "Zwei-in-einem"-Band von immerhin 1450 Seiten Stärke beim Heyne-Verlag erschienen sind. Ich fühlte mich an einige "Star Trek"-Folgen erinnert. Geordi LaForge an Picard: "Captain, wir könnten eine statische Warp-Schale um das Schiff legen." Wissendes Nicken bei Picard. "Machen Sie es so!" Kein Blick in die Kamera, keine Erklärung, was zur Hölle eine statische Warp-Schale macht, oder wie sie erzeugt wird. Immerhin kann man sicher sein, daß kein Obst darin aufbewahrt wird. Jedenfalls: Kein personaler Erzähler aus der Zukunft wird sich mit Erklärungen aufhalten! Kein personaler Erzähler aus der Gegenwart wird zunächst die Funktionsweise eines Automobils erläutern. Er steigt einfach ein und braust davon.
Dan Simmons breitet eine Zukunftswelt aus, im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Hegemonie, die Netzwelt, die nach dem Exodus von und dem Exitus der Erde zur Heimat für hundertfünfzig Milliarden Menschen geworden ist, deren Jetztzeit sich etwa achthundert Jahre in unserer Zukunft befindet, könnte detail- und ideenreicher kaum von ihren eigenen Bewohnern gezeichnet werden. Die Menschen haben sich hunderte von Planeten zueigen gemacht, auch unterworfen, wobei die Palette von der "Neuen Erde" über skurille Hochschwerkraftwelten, zauberhafte "Ice-In-The-Sunshine"-Strandplaneten bis hin zu eigenen Heimatwelten für neue und alte Religionsgemeinschaften reicht. Auf "Hebron" leben Juden, "Pacem" beherbergt die Reste der katholischen Kirche, "God's Cove" die ökologisch-fundamentalistischen Tempelritter. Aber das Hauptaugenmerk liegt auf Hyperion, einer weit entfernten Welt, die kurz vor der Aufnahme in die Hegemonie steht. Dort befinden sich die geheimnisvollen Zeitgräber, die Behausung des "Shrike" eines organisch-technischen Wesens, das zunehmend zur Bedrohung für die Bewohner des Planeten, letztlich aber auch der gesamten Netzwelt wird. Ein Krieg wird beginnen, ein Krieg um den seltsamen Planeten, der von schicksalshafter Bedeutung für die Menschen in der Hegemonie, der Künstlichen Intelligenzen im all-mächtigen "TechnoCore", aber auch für die "Outsters" zu sein scheint, jene, die sich bei Gründung der Hegemonie für einen anderen Weg der Zivilisation entschieden haben.
Sieben Pilger machen sich auf den Weg zum "Shrike", es ist die letzte Pilgerfahrt vor Ausbruch des Krieges. Pater Paul Hoyt, der einen Parasiten namens "Kruziform" auf der Brust trägt, der ihm eine degenerative Form von Unsterblichkeit verleiht. Dichter Martin Silenius, dessen Muse das brutale Shrike war. Archäologe Sol Weintraub, dessen Tochter Rachel seit einer Expedition durch die Zeitgräber rückwärts altert. Und andere. Jeder der Pilger hat eine sehr eigene, sehr eigenartige Geschichte - diese Geschichten erzählt der erste Band, "Hyperion". Er endet mit dem Eintreffen der Pilger bei den Zeitgräbern, parallel bricht der Krieg aus. Nach fast achthundert Seiten hat man gerade die Ouvertüre hinter sich - aber was für eine! Alle sechs Geschichten, die sich die Protagonisten auf ihrer Fahrt gegenseitig erzählen, stellen jede für sich ein Glanzlicht der gehobenen SF-Literatur dar, strotzen vor brillanten Ideen, sind - in wechselnden Diktionen - dicht, fesselnd, überzeugend erzählt. Aber Simmons legt noch einen drauf.
Im zweiten Teil, "Der Sturz von Hyperion", verbinden sich die Schicksale zu einem Bild, während die Machtkämpfe innerhalb der Hegemonie, die umfassende Kontrolle des TechnoCore und die Angriffe der Outsters auf einen Klimax zustreben, dessen Fokus wiederum auf Hyperion zu suchen ist.
Die beiden Bücher sind eines - eines, das man trotz der Mächtigkeit nicht weglegen mag. Die übersprudelnden, fantastischen Ideen, die sich - und so *sollte* es sein - im Verlauf der Handlung selbst erklären, die wortgewaltig, kunstvoll erzählten Geschichten, die Verbindung von Religion, Kulturgeschichte, Mythologie und Zukunftsentwurf, die subtile, adaptierbare Zeitkritik, das fantastische Hintergrundwissen, der gelegentlich dünn erscheinende, sich am Ende aber als konsistent erweisende rote Faden, die feine Zeichnung aller Figuren, die sprachliche Kunstfertigkeit - toll. Mit Sicherheit eines der besten Science-Fiction-Werke, das ich je gelesen habe - und nicht nur das: Manch ein hochgejubelter Autor sogenannter "Gegenwartsliteratur" könnte sich mehrere Scheiben bei Simmons abschneiden - in vielerlei Hinsicht.
Die "Fortsetzung" Endymion (auch wieder 1500 Seiten) liegt bereits auf meinem Nachttisch.