Der Herr ist kein Hirte.
Wie Religion die Welt vergiftet
Christopher Hitchens, Blessing, Oktober 2007

Die Diskussion um die Position des Glaubens in unserer Zeit und Welt scheint schärfer geführt zu werden, als das je der Fall war. Während sich fundamentalistische Muslime mit Explosivsätzen ausstatten, um die zivilisierte Welt in die Gottesfürchtigkeit zurückzubomben, erstarken in "God's own country", den USA, die so genannten Kreationisten, die alle Wissenschaft für reinen Ulk halten und davon ausgehen, dass die Welt vor ein paar tausend Jahren erschaffen wurde. Aber das sind nur die Exponenten, die Extreme, die durch die Medien gereicht werden. Religion ist ein Alltagsbestandteil, ob man nun will oder nicht, und selbst der von uns Europäern also so friedfertig empfundene Buddhismus hat seine gewalttätige Seite, arbeitet mit unwürdigen Ritualen und dem Verzicht auf Vernunft. Zudem sind fast alle kriegerischen Auseinandersetzungen, die unser Planet jüngst erleben musste und noch immer muss, auf die eine oder andere Art religiös bestimmt, ob das nun die "ethnischen Säuberungen" im ehemaligen Jugoslawien waren oder ob es sich um den Bürgerkrieg in Ruanda handelt - um nur zwei Beispiele von vielen zu nennen. Gruppen streiten energisch um den vermeintlich goldenen Weg zu Gott, und am Rand dieses Weges stapeln sich die Opfer, ob das nun beschnittene Kinder sind, bei lebendigem Leib ausgeblutete Schlachttiere oder Frauen in entfremdenden Uniformen, gerne bei bestialischen Steinigungen getötet, weil der Schöpfer es angeblich verlangt.

Glauben ist Thema, und im Rahmen dieser Diskussion melden sich mehr und mehr gebildete Atheisten zu Wort, die lautstark gegen Spiritualität und - im vorliegenden Fall - gegen ihre Folgen Stellung beziehen. Über all dem steht die Frage, inwieweit die Religion - sei es nun diejenige, die buchstabengetreues Handeln auf Basis irgendwelcher Schriften fordert, oder jene, die deistisch oder pantheistisch eine jenseitige Kraft annimmt, die auf regelndes Eingreifen verzichtet - diesen Platz verdient, den sie in vielen Gesellschaften der Erde einnimmt.

Der weitgereiste Journalist Christopher Hitchens befasst sich in seinem manchmal amüsanten und häufig verblüffenden Buch nur am Rand mit dem Problem, ob Gott existiert oder nicht. Er beantwortet sie indirekt, denn er schildert das Entstehen und auch das Vergehen diverser Religionsgemeinschaften, von denen er einige jüngere hautnahe erleben durfte; in einem Fall wurde er sogar ad hoc zur Gottheit. Dabei werden die vermeintlich heiligen Schriften diskutiert, ihre geschichtlichen und literarischen Hintergründe, die wundersamen Offenbarungen und vieles mehr. Religion ist handgemacht, menschengemacht - eine Idee, die den Vorteil hatte, vor allen anderen entstanden zu sein, die Erklärungen zu liefern in der Lage waren, und deren Erblast deshalb auch heute noch schwer getragen werden muss, obwohl erdrückende Argumente gegen diese Märchen sprechen. Sie wird getragen von kleinen Kindern, die mit mythischen Angstmachern konfrontiert werden, von Frauen, die misshandelt werden, von Gruppen, die ausgelöscht werden, weil sie nicht in das jeweils favorisierte göttliche Konzept passen - oder es sich nicht aufzwingen lassen. Von uns allen, weil der Terrorismus, den wir erleben, religiös motiviert ist. Von Menschen, die sich in Verzicht üben und selbstkasteiend leben, um einem Schöpfer zu gefallen.

Hitchens führt viele Argumente gegen den Glauben an, den er für blanken Unsinn hält. Religion ist wie gemacht für uns egozentrische Wesen, denn die Idee des persönlichen Gottes, des paradiesischen Jenseits, der Sündenvergebung usw. dient keineswegs der Spiritualität, sondern irdischen Strukturen - nicht zuletzt Machtstrukturen. Es wäre zu viel verlangt, alles aufzulisten, was Hitchens anführt, um etwa darauf hinzuweisen, dass die Bibel in der Moderne als vor allem metaphorisches Werk interpretiert wird, was sie aber zu ihrer Entstehungszeit keineswegs war, folgen doch zum Beispiel (und dies ist eines von sehr vielen) den zehn Geboten Dutzende von landwirtschaftlichen Hinweisen, die erkennbar überhaupt keine Metaphorik enthalten, sondern als Anweisungen für die damaligen Bauern zu verstehen waren - und sind. Diese Regeln waren für eine Zeit gemacht, und in dieser Zeit. Über die Entstehung dieser und anderer "heiliger" Schriften ist schon sehr viel geschrieben worden, und die zweifelhafte Geschichte dieser Werke lässt weit mehr Schlüsse zu, die gegen ihre Inhalte sprechen, als dafür.

Auch Christopher Hitchens widmet sich der Frage, ob die Religion wenigstens dafür gut ist - oder war -, dass die Menschen moralisch handeln, und er kommt zu dem nachvollziehbaren Schluss, dass das Gegenteil der Fall ist. Moralisches Handeln war bestenfalls bei den einfachen Menschen vorzufinden, aber auch häufig nur aus egoistischen Gründen, aus der Angst vor der alles sehenden Gottheit, aus Hoffnung auf ein glückbringendes Jenseits, das es nicht gibt. Tatsächlich, behauptet Hitchens, ist unmoralisches Handeln bei den Religionsvertretern sogar sehr viel weiter verbreitet als bei nichtgläubigen Menschen. Moral bedarf keiner abstrakten Instanz, die mit dem Höllenfeuer droht, sondern eines Verständnisses für das Miteinander. Auch dem gerne wiederholten Argument, Diktatoren wie Stalin oder Hitler hätten sehr viel mehr Opfer gefordert, ohne religiös motiviert gewesen zu sein, widmet sich der Autor ausführlich, obwohl diese Milchmädchenrechnung eigentlich keiner Argumentation bedürfte. Und vielen, vielen anderen.

Im Gegensatz zum Beispiel zu Dawkins führt Hitchens die Diskussion um die Grundlagen der Religionen, um Gottesbeweise und -widerlegungen, um die Existenz und Authentizität Jesu, Mohammeds und all der anderen Propheten nur am Rande. Ihm geht es in diesem wirklich spannenden und intelligenten Buch vor allem um die Folgen, denen Menschen weltweit immer noch ausgesetzt sind. Um die vielen Spielarten von drangsalierenden Ritualen, unerfüllbaren göttlichen Regeln, Missachtung, Ausgrenzung, Unvernunft, Völkermord und Gewalt, die mit Religion einhergehen. Keine andere Erfindung der Menschen hat so viele Opfer gekostet, faktische wie vor allem geistige.

Spannender als Dawkins, entspannter als Onfray, hart, direkt, unversöhnlich, aber vom Verständnis für Beweggründe durchsetzt. Eines der besten Bücher zum Thema.

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