Wir brauchen keinen Gott.
Michel Onfray, Piper, April 2007
Rundumschlag
Dem französischen Philosophen Michel Onfray kann man sicherlich einiges vorwerfen, aber keineswegs, dass er sich mit einer Materie beschäftigen würde, von der er keine Ahnung hat: Das Gegenteil ist der Fall. Sein Wissen um die Geschichte der monotheistischen Religionen - Christentum, Judentum, Islam - ist beträchtlich, und auf diese Art nimmt er jenen von vorneherein den Wind aus den Segeln, die dieserart gegen "Wir brauchen keinen Gott" zu argumentieren versuchten.
Das nur knapp 300 Seiten dicke Buch ist ein Rundumschlag gegen den Glauben. Onfray seziert alles, die Entstehung der Bibel, die er geschickt in das literarische Umfeld ihrer diversen Ursprungszeiten eingliedert, den Jesus-Mythos, diese wunderreiche Geschichte um den vermeintlichen Messias, für dessen Existenz es keine Beweise gibt, und den keiner der Evangelisten zu Gesicht bekommen hat, schließlich den Siegeszug des Christentums, angeführt von Kaiser Konstantin und dem umstrittenen Apostel Paulus. Onfray erläutert die redaktionellen Hintergründe des vorliegenden Bibeltextes, der ja nur stark flurbereinigte Auszüge aller Quelltexte enthält, er deutet die Widersprüche darin an und listet viele offensichtliche Unwahrheiten und Unwahrscheinlichkeiten auf. Ähnliches vollführt er mit dem Koran. Ein besonders bemerkenswertes Kapitel ist der üblichen Art der Bibelinterpretation gewidmet, dem Arbeiten mit Textauszügen. Tatsächlich bieten die Bibel und insbesondere der Koran für jede Art des Handelns Rechtfertigung, und deshalb sind diese Bücher auch so beliebt bei totalitären Herrschern - Hitler eingeschlossen.
Aber auch das ist nur ein Exzerpt dessen, was sich auf den wenigen hundert Seiten drängt. Onfray schreibt über die Wirkung der monotheistischen Religionen, über ihre Folgen für jeden einzelnen, ganze Staaten und die gesamte Welt. Er lässt keinen Stein auf dem anderen, und er lässt insbesondere nicht zu, die - insgesamt gesehen spärlichen - Beweise echter Nächstenliebe, die auch meistens von den untersten in der Kirchenhierarchie (Hierarchie bedeutet übrigens so viel wie "heilige Ordnung") erbracht wurden, mit dem aufzurechnen, was die Vertreter dieser Mythen an Schaden angerichtet haben. Dieser nämlich besteht längst nicht nur aus den Millionen Opfern, die im Namen des Herren ihr Leben lassen mussten und noch immer lassen müssen, sondern vor allem aus einer philosophischen Bremse, die jahrhundertelang dem Fortschritt der Menschheit im Wege stand. Noch immer und in allen monotheistisch geprägten Gesellschaften steht, auch wenn er sich scheinbar auf dem Rückzug befindet, der Glauben im Vordergrund, prägt Alltag, Justiz, Umgang, Lebensplanung und Politik. "Grüß Gott", sagen die Menschen im Süden, und der Begriff "Jungfrau" steht noch immer für Reinheit und "Unschuld" (Schuld woran?), um nur zwei von Hunderten von Beispielen zu nennen.
Zudem erklärt Onfray, warum der Atheismus, jener negativ belegte Begriff, der für vermeintliche Seelenfeinde, Glaubensgegner und Naturalisten steht, über Jahrhunderte keine Chance hatte, wie Schriften zu Abertausenden vernichtet wurden, und ihre Schöpfer und die Anhänger dieser Denker gleich mit. Wie gesagt, der Autor richtet sein wortgewaltiges Augenmerk auf alle Aspekte, und es bleibt nichts und niemand verschont.
Negativ sind zwei Dinge anzumerken. Erstens werden jene, die dieses Buch unbedingt lesen sollten, dies keinesfalls tun, oder bestenfalls mit der rosa Brille des Frommen, der die vielen Ungereimheiten als Prüfung Gottes abtut. Und zweitens hätte der Autor den abgrundtiefen Haß, den er empfindet und durchaus begründen kann, auch etwas weniger deutlich in seine Wortwahl einfließen lassen können. Das ändert aber nichts daran, dass dieses um gute zwanzigtausend Seiten zu schmale Buch eines der wenigen lesbaren Kompendien darstellt, die Glaubenskritik beinhalten, ohne sich gleich wieder zu relativieren.