Engelszungen. Roman.
Dimitré Dinev, Deuticke 2003


In Österreich gefeiert, in Deutschland kaum wahrgenommen: Das Bulgarien-Epos von Dimitré Dinev, der selbst 1990 nach Wien übergesiedelt ist - und das Buch auf deutsch verfaßt hat.

"Engelszungen" erzählt die Familiengeschichten von Svetljo und Iskren aus Plovdiv, wobei das Buch den Bogen über fast fünfzig Jahre spannt, die Shivkov-Ära sehr fein beobachtet, das Verhältnis der Bulgaren zum Kommunismus, die großen Schwierigkeiten und kleinen Freuden der Landsleute. Iskrens Vater ist ein orthodoxer Parteikarrierist, der seine beeindruckenden Reden - "Engelszungen sprechen", wie seine Genossen zu sagen pflegen - mit Hilfe der Prostituierten Isabella schreibt. Svetljos Vater hingegen schafft als Milizionär im Sumpf des realen Sozialismus, bezieht Respekt und Befriedigung aus ganz besonderen Verhörmethoden, die die "Wahrheit" immer zutage fördern.
Eine schicksalhafte Begegnung der Väter sorgt für die Verflechtung der Familiengeschichten, ohne daß sich die Söhne begegnen - bis zum Ende des Romans, als sie beide, inzwischen gescheiterte Existenzen, auf einem Wiener Nobelfriedhof vor dem Grab Miros stehen, eines serbischen Verbrechers, der kurz vor seinem Tod zum Schutzheiligen für alle Exilanten wurde, und bereits zuvor gehörigen Einfluß auf beider Leben hatte.

Das Buch macht es anfangs redlich schwer, vor allem aufgrund seiner auf verwirrende Art einfachen Diktion, einer recht unscharfen Perspektive und immer wieder eingeschobenen Lebensbetrachtungen, bei denen nicht ganz klar wird, ob sie dem Erzähler zuzuschreiben sind oder die Meinung eine der vielen, vielen Figuren wiedergeben. Dann gewinnt das irgendwie herzige und augenzwinkernd-freundliche Buch an Dichte und Fahrt; die Schilderung der Kindheit und Jugend von Iskren und Svetljo überzeugt dramaturgisch - und sogar die etwas seltsame Sprache scheint plötzlich zu stimmen. Als dann der Sozialismus zusammenbricht, geschieht dies auch mit der Erzählung; ziemlich aufgesetzte Metaphorik, ein Übermaß an Zufällen und wenig glaubhaften Verstrickungen, vermischt mit zunehmender Erzähleile verwischen den guten Eindruck des Mittelteils zusehens. Der Spaß wird alleine durch die selbstironische Betrachtung des Aberglaubens, ein übergeordnetes Thema der gesamten Erzählung, aufgefangen, allerdings nur fast. Die insbesondere im Schlußteil eingeflochtenen Lebensweisheiten nerven ziemlich.

"Engelszungen" ist ein interessanter, detailreicher, dichter, sehr liebevoll erzählter, leider dramaturgisch und sprachlich etwas schwächelnder Roman, der sich nicht für eine Aspektmenge entscheiden mochte, was ihn zu einer etwas diffusen, nichtsdestotrotz über weite Strecken spannenden Erzählung macht, die Erinnerungen wachruft, die viel zu schnell in den Hintergrund getreten sind, der die dramatischen Einzelschicksale während der jüngeren europäischen Geschichte beleuchtet, jener Täter und Opfer, von denen man anzunehmen versuchte, die Veränderung alleine hätte alle Wunden geheilt.

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