Drachenläufer. Roman.
Kahled Hosseini, Berlin Verlag, März 2008
Amir ist der Sohn eines sehr angesehenen und mächtigen Mannes, den er Baba nennt. Amirs Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, weshalb der Junge umso mehr um die Anerkennung des Vaters buhlt, aber es gelingt ihm kaum, da dem Jungen jene Eigenschaften zu fehlen scheinen, die für den starken und patriarchalischen Baba wichtig sind. Amir ist eher verträumt, kein Kämpfer, und er schreibt Geschichten, was den Vater wenig beeindruckt - ganz im Gegenteil. Wir befinden uns im Jahr 1975 und in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans.
Auf dem Anwesen des Vaters leben außerdem Ali, der Hausdiener, und Hassan, dessen Sohn, der Amir zu Diensten ist, mit dem er aber auch seine gesamte Freizeit verbringt. Hassan liebt Amir aufrichtig und würde alles für ihn tun, aber Amir ist Paschtune und Hassan Hazara, was bedeutet: Der eine gehört zur Herrscherklasse und der andere zur rechtelosen Minderheit. Das zeigt sich zuweilen im eigentlich liebevollen Verhältnis der beiden, so betrügt Amir den Freund bei Nebensächlichkeiten, drängt ihn immer wieder dazu, Dinge zu tun, die dieser nicht tun möchte, um anschließend keineswegs die Verantwortung für die Taten zu übernehmen, sondern auf Ali abzuwälzen, der das klaglos hinnimmt.
Zu Beginn des Winters finden in Kabul Drachenkämpfe statt, bei denen es darum geht, die Flugdrachen der anderen zu schneiden, also vom Himmel zu holen, und als letzter einen Drachen in der Luft zu haben. Die gesamte Stadtbevölkerung feiert in dieser Zeit, und der Junge, der den Sieg erringt, ist ein kleiner Held - die einzige Möglichkeit für Amir, den Respekt des Vaters zu erringen. Die Krönung besteht jedoch darin, den zuletzt vom Himmel geholten Drachen zu erlaufen und als Trophäe zu präsentieren. Hassan ist der beste Drachenläufer von allen. Als Amir schließlich den Sieg beim Wettkampf erringt und Hassan startet, um den letzten Drachen zu finden, wird er in einer Gasse vom bösartigen Assef gestellt. Amir erreicht den Schauplatz des Geschehens kurz danach, hält sich aber versteckt. Und auch als der Freund von Assef und dessen Gesellen geschlagen und geschändet wird, zeigt sich Amir nicht. Ein Verrat, der ihn sein Leben lang verfolgen wird.
Dieses Leben ist geprägt von der geschichtlichen Entwicklung Afghanistans: Die Monarchie wird zerschlagen, aber auch die Republik existiert nicht lange. Die Russen marschieren ein, dann folgen die Taliban mit ihrem fundamentalislamischen, tyrannischen Regime. Amir und sein Vater fliehen in die Vereinigten Staaten. Doch irgendwann, noch während der Taliban-Herrschaft, kehrt Amir zurück, um seinen Verrat gutzumachen.
Dieser gefeierten Weltbestseller liefert ein anschauliches Bild einer Kultur, die uns Westeuropäern fremd scheint, aber nicht wenige Parallelen zu unserer eigenen Vergangenheit aufweist: Patriarchalische Strukturen, in denen tradierte Regeln, Frauenfeindlichkeit, Herrscherwillkür und Unterdrückung an der Tagesordnung waren, gab es auch bei uns. Während wir uns allerdings am Liberalismus wärmen, kommt das geschundene asiatische Land nur langsam voran, wie wir immer noch täglich den Nachrichten entnehmen können, so es uns denn überhaupt interessiert. Es ist ein Verdienst Hosseinis, das Schicksal seiner Landsleute mit sehr lesenswerter Belletristik in die Köpfe der restlichen Welt getragen zu haben.
Allerdings gibt es ein Aber. Ab der Flucht in die USA lahmt die Story, trägt stark autobiographische Züge und will sich nicht mehr so recht entwickeln. Amirs Rückkehr nach Afghanistan korrespondiert kaum noch mit dessen bisheriger Geschichte, wird dann fast zum Heldenepos, das sich nicht dafür zu schade ist, auch noch das letzte Klischee zu bemühen. Das Ende schließlich krümmt den Spannungsbogen bis fast zum Zerbrechen, was die Frage aufwirft, ob so viel des Guten wirklich hätte sein müssen. Dennoch gehört dieses trefflich erzählte, interessante und ergreifende Buch zu den lesenswerteren Weltbestsellern.