Dr. Sex. Roman.
T. C. Boyle, Hanser 2005


Boyle legt mit "Dr. Sex" (OT: "The Inner Circle") seine zweite halbfiktive Biographie vor. Im Gegensatz zum überbordenden und unglaublich lustigen "Wassermusik" über den Nilquellen-Entdecker Mungo Park aber markiert "Dr. Sex" eher das untere Ende der Skala, wenn man Boyles bisheriges Gesamtwerk betrachtet.

Indiana, die späten Dreißiger. Amerika bereitet sich auf den Krieg vor, während ein Zoologe eine echte Revolution plant: Der Gallwespenforscher Albert C. Kinsey untersucht das Sexualverhalten der Amerikaner, akribisch und hochwissenschaftlich - er stellt tausenden Menschen Fragen zu außerehelichem Sex, über Begegnungen mit dem anderen Geschlecht, mit Tieren und Gegenständen, er dokumentiert das Masturbationsverhalten, die Abmessungen der Genitalien, all diese Dinge, über die selten zuvor öffentlich gesprochen wurde. 1948 wird er die geschockten U.S.A. mit seinen erhellenden Abhandlungen über "Das Sexualverhalten des Mannes" beglücken. "Dr. Sex" erzählt vom Weg dorthin, vor allem aber über Professor Albert C. Kinsey, genannt "Prok", über den kleinen Kreis von Menschen, die am Projekt beteiligt waren, und von denen der Ich-Erzähler John Milk einer ist bzw. war. Jedenfalls in diesem Buch, denn John Milk gab es nicht wirklich.

Was vor knapp sechzig Jahren noch schockte, haut heute natürlich niemanden mehr vom Hocker, und die Tabus, die Kinsey damals reihenweise brach, sind heutzutage eher umgekehrt die Einstiegsschwelle etwa für Talkgäste in dussigeligen Nachmittagsshows. Deshalb versucht Boyle auch überhaupt nicht, das Tabu zu skizzieren, zu konkretisieren - auf "heiße Szenen" wird man in diesem unglücklich betitelten Buch vergeblich hoffen. Er bemüht sich vielmehr, den enormen Paradigmenwechsel zu veranschaulichen, der dem Werk Kinseys zugrunde lag und durch ihn ausgelöst wurde.
Gegenstand von "Dr. Sex" ist Kinsey als Person, dieser energische, beherrschende, selbstbewußte, engstirnige, eloquente, vereinnahmende und auf seltsame Art intolerante Wissenschaftler, der sein Denken all jenen aufzwang, die mit ihm zu tun hatten, der den "inneren Kreis" gottgleich beherrschte und bei mancher menschlichen Katastrophe Pate stand.

Leider ist dieser Dr. Kinsey vollkommen unsympathisch, ein diktatorischer Erbsenzähler, und auch seine Helfer - allen voran John Milk - verfügen über das Identifikationspotential eines gebrauchten Kondoms. Die Konflikte in diesem Buch sind vorhersehbar und nur leidlich dramatisch, beziehungsweise eigentlich überhaupt nicht, denn Boyles schwach erzählender Protagonist greift ständig vorweg, so daß etwa die Implikationen des durch "Prok" geförderten Partnertauschs unter seinen Mitarbeitern flach und unspannend bleiben. Und überhaupt ist "Dr. Sex" ein langweiliges, sehr durchschnittlich erzähltes Buch, dessen Protagonist zwar Revolutionäres geleistet hat, als Mensch aber völlig uninteressant gewesen zu sein scheint.

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