Doctor Fine.
Roman.
Samuel Shem, Droemer-Knaur 2000 (TB)



Shem (Pseudonym), amerikanischer Arzt und Psychiater, Autor des unglaublichen "Kult"-Buches "House Of God", eines drastischen, rasanten und makaber-komischen Romans über das "Internship"-Jahr eines jungen Arztes am gleichnamig- hochrangigen jüdischen Hospital, widmet sich nach "Mount Misery" wiederum der Psychiatrie im weitesten Sinne.

Hauptfigur Fine, dessen Vorname uns aus psychotischen Gründen vorenthalten bleibt, ist ein Genie, brillanter Denker und Theoretiker, monströser Autodidakt, gleichzeitig aber unsicher und ausgegrenzt, bis ihm Stephanie begegnet, und etwas später John, der Zweitehandmensch, eine Spiegelfigur, konsequenterweise Schauspieler. Das Trio, zunächst durch rezeptive, von Fine angeführte Freundschaft stark aneinander gebunden, durchlebt parallel zu dessen Entwicklung in der Psychoanalyse (Annäherung, disjunkte Verinnerlichung, Ablehnung, reflektive Auseinandersetzung) die Hochs und Tiefs der Gemeinsamkeit innerhalb sich verändernder persönlicher Strukturen, während ein Mörder sein Spiel mit Fine treibt.
Leider beherrscht die Mord- und Entführungsserie in der zweiten Hälfte diesen Roman, der gespickt ist mit wissens- und lesenswerten Informationen über die Psychoanalyse, über die zumeist selbst überaus problembehafteten, weltfremden Analytiker, die rekursive Systematik der psychoanalytischen Ausbildung am "TBI" (The Boston Institute) und die Schwierigkeit des angehenden Analytikers, in der wenig fundierten Welt der Behandlung seiner Patienten einen, den *richtigen* Weg zu finden.
Erst nach einem epileptischen Anfall und der nachfolgenden "Verschiebung" von Fines Persönlichkeit (für eine kurze Zeit bestimmt dessen rechte Hirnhälfte sein Denken) öffnet sich die Fähigkeit zur Empathie, zur Infragestellung dogmatischer Analyseverfahren, zur Wahrnehmung der Patienten als Menschen. Und zum Vergleich. Die Kalibrierung Fines im letzten Viertel schließlich führt nicht nur zur Klärung der Mordserie, sondern auch zum Durchbruch des Analytikers. In mehrerlei Hinsicht.

"Doctor Fine" wirkt allerdings weitaus konstruierter, unpersönlicher, gezwungener als seine Vorgänger, insbesondere natürlich "House Of God", diesem - nicht nur für Mediziner interessanten - Meilenstein der "klinischen Belletristik", der hohen, selbstgesetzten Meßlatte für die Werke des Autors. Hinzu kommt die Fehlentscheidung des Shems, einen nahezu überflüssigen Kriminalfall mehr und mehr in den Vordergrund zu rücken, denn diese Verbrüderung mit einem Genre der klassischen Erzählliteratur offenbart die Schwächen Shems, dem es nicht gelingt, die Bedrohlichkeit der Situation zu transportieren.

Andererseits stellt insbesondere der Konflikt Fines in seiner Phase der unreflektierten Verinnerlichung freud'scher Maxime eine bedrückende, nahezu greifbare Krise dar, die für den Leser nicht nur direkt nachvollziehbar ist, sondern ihn in ebendiese bindet.

Lange nicht so amüsant und fesselnd, wie "House Of God", weniger klinisch, als "Mount Misery", allerdings - mit Abstrichen - durchaus lesbar, gelegentlich vergnüglich, und im Hinblick auf die dargereichten Informationen sehr, sehr interessant.

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