Buddenbrooks. Roman.
Thomas Mann,Fischer 1989
1901, vor über 100 Jahren, erschien der bis heute populärste Roman Manns, den er im Alter von 26 Jahren veröffentlichte - und für den er 28 Jahre später den Literatur-Nobelpreis erhielt.
Im Lübeck des frühen 19. Jahrhunderts gelten noch Rang- und Hackordnungen, wie sie heute nicht mehr vorstellbar sind, genießen nur "Bürger" (und hier auch nur die männlichen) das Wahlrecht, werden Senatorenposten noch auf Lebenszeit vergeben, ist als Bürgermeister nur wählbar, wer eine akademische Laufbahn abgeschlossen hat, gibt es noch "Hausarme", die zu Weihnachten an Katzentischen der familiären Bescherung beiwohnen dürfen, entscheiden Stand und Familienoberhäupter über Eheschließungen, werden Weihnachtsgeschenke nach dem Tod des Beschenkten zurückgegeben und Erbanteile nach und nach vom Vormund ausbezahlt, zählt der Wert einer Braut unmittelbar über die zu erwartende Mitgift.
Der Roman erzählt die Geschichte der Kaufmannsfamilie Buddenbrook, hauptsächlich vom Schicksal Thomas Buddenbrooks, der Mitte des Jahrhunderts die Familiengeschäfte übernimmt, zu einer Zeit, als Revolutionen und die Begehren des "einfachen" Volkes die Strukturen zu verändern beginnen, sich Ehrencodizes im Geschäftsleben verschieben, Werte bröckeln. Thomas hat alle Hände voll damit zu tun, sich der Schwester Antoinie, dem leichtlebigen Bruder Christian, allen angeheirateten und durch Geburt hinzukommenden Familienmitgliedern zu widmen, ihre Geschicke im Interesse der angesehenen Sippe zu lenken, was nicht immer
gelingt, eher sogar selten. Er wird Senator und führt die Firma zu großem Erfolg, aber es ist abzusehen, daß die Ideale des Mannes nach und nach den gesellschaftlichen Veränderungen zum Opfer fallen werden, daß der moralische Anspruch nicht mehr genügt, um den Widrigkeiten zu trotzen; er ist ein Anachronistikum, und er weiß es. Die Familie wird zerbrechen, der Verfall, der im Untertitel des Romans angekündigt wird, ist unaufhaltsam, da die verinnerlichte Bürglichkeit Buddenbrooks, sein Ehrgefühl und seine Ziele mit den Ansprüchen der veränderten Gesellschaft unvereinbar sind. Der Sohn Johann, genannt Hanno, ist es schließlich, der die letzte Eintragung im Familienbuch vornimmt.Es tut wohl, unendlich wohl, ein Werk zu lesen, das ohne jede Effekthascherei auskommt, auf heute populäre Stilmittel der Leserbindung verzichten kann, weil die Sprache so mächtig, so angemessen, so facetten- und einfallsreich ist, ohne daß das Erzählte ihr je untergeordnet wird, ganz im Gegenteil. Figuren und Orte erhalten durch einfache Nuancierungen und präzise, redundanzfreie Formulierungen ihr Gesicht und ihre Charakteristika, wirken immer plastisch, authentisch, überaus dramatisch, entwickeln Eindringlichkeit und Tragik; für Vergleichbares müßten zeitgenössische Autoren ärmeltief in die Trickkiste greifen, ohne einem großen Vorbild wie diesem auch nur nahe zu kommen. Gleichzeitig beweist das Buch, warum es zeitlose Literatur gibt und was sie ausmacht. Insbesondere aber ist es eine Demonstration dafür, wie Sprache in Vollendung eingesetzt werden kann, ohne zum Selbstzweck zu werden, wie sich Handlung und Erzählweise zu einer komfortablen Symbiose verbinden, ohne daß das eine je zum Sklaven des anderen wird - eine Kunstfertigkeit, zu der später nur wenige deutsche Schriftsteller wieder in der Lage waren.