Anidas Prophezeiung. Roman.
Susanne Gerdom, Heyne 2003
Ach, die Klappentexter. Kaum ein Autor, der sich noch nicht der etablierten Literaturwelt hinzurechnen kann, wird von marktschreierischen Vergleichen verschont. Als Quasi-Standard im Fantasy-Bereich hat sich, natürlich, die Tolkien-Referenz etabliert, aber auch andere - Feist, Williams usw. - dürfen herhalten, wenn es darum geht, die Gemeinde davon zu überzeugen, ein neues Buch zu kaufen. Auch andere Genres sind mithin davon betroffen, manch ein Cyberpunker sah sich unfreiwillig in der Gibson-Kategorie, manch ein Autor von Gegenwartsromanen mußte sich in einer Schublade mit Goosen, Stuckard-Barre oder Hornby drängeln. Schade, denn erstens wird damit die Erwartungshaltung der Leser kanalisiert, und zweitens tut man häufig entweder dem Autor oder dem Vergleichsobjekt unrecht.
Hier sind es Ursula K. LeGuin, deren "Erdsee-Zyklus" ich eher mittelmäßig fand, und die allgegenwärtige Marion Zimmer Bradley, von der ich, Schande über mich, noch überhaupt nichts gelesen habe. Jedenfalls wird Susanne Gerdom, deren bezaubernder Erstling vor zwei Jahren, ebenfalls im Hause Heyne, noch unter einem Pseudonym erschien, in dieser "Größenordnung" gehandelt.
Anida, genannt Ida, die dürre, kantige, intelligente, spitzfindige Tochter eines Landlords, wächst behütet in ihrer mittelalterlichen Welt auf; ihr Bruder Albuin verfügt über magische Fähigkeiten, die ältere Schwester genügt am ehesten den Vorstellungen des ruppigen, emotionsarmen Vaters. Die Mutter ist lange tot, und mit vierzehn stellt Anida fest, daß die Lebensplanung, die aus der Feder des Vaters stammt, nicht sonderlich viel mit ihren eigenen Vorstellungen zu tun hat. Sie verschwindet aus dem Elternhaus und schließt sich der Grünen Gilde an, jener autarken, mächtigen Frauenvereinigung, die allüberall ihre Finger im Spiel hat und - natürlich - von den Männern skeptisch angesehen wird. Tante Ylenia, Chefin der "Weißen Magierinnen", hat kurz zuvor festgestellt, daß Anida wider Erwarten keine magischen Fähigkeiten zu besitzen scheint.
Dieser Teil des Romans, etwa das erste Viertel, wird aus der dritten Person, quasi-auktorial erzählt. Und ganz plötzlich beginnt eine Ich-Erzählung, deren Hauptfigur "Eddy", von der wir erst spät erfahren, daß sie eigentlich "Anida" heißt, auf einem seltsamen Müllplaneten zu leben scheint, hauptsächlich in den "Clouds", den Slums der Hauptstadt, Eddy lebt vom Klauen, Schnorren und der Tatsache, daß sich einige Bewohner der Stadt sehr liebevoll um sie kümmern. Aber die Roten Garden der Kaiserin führen eine Säuberungsaktion durch, Eddy landet in einer Strafkolonie.
Im letzten Drittel dieses ersten Teils einer Trilogie werden die Zwillingsschwestern, die nicht wußten, daß es die jeweils andere gibt, auf magisch-mysteriöse Weise wiedervereinigt, denn ihr Schicksal ist mit dem Schicksal der Welt verwoben: Im Nebelhort, dem unzugänglichen, geheimnisumwitterten Viertel des Planeten, erhebt sich die Schwarze Macht, die Nebelgrenze drängt nach und nach in die Nachbargebiete - offensichtlich haben die Schwarzen Magier, die man geschlagen wähnte, eine Wiederauferstehung gefeiert.
Natürlich ist das alles schon dagewesen, aber das gilt für fast jede Geschichte. Susanne Gerdom löst dieses Problem durch erzählerische Originalität und durch die unkonventionelle Verknüpfung eines Fantasyplots mit einer Science-Fiction-Handlung, vor allem aber widmet sie sich ihren Figuren sehr liebevoll, läßt die Frauen praktisch durch die Bank Hauptrollen spielen, bereitet eine sehr weibliche Problembehandlung vor. Dabei findet in diesem ersten Band hauptsächlich etwas statt, das mit dem Aufstellen der Figuren beim Schach vergleichbar wäre: Wir lernen sie kennen, ihre Eigenarten und Eigenschaften, durchstreifen die Lande, begegnen den seltsamen Völkern, ahnen etwas von den Zusammenhängen. Die Bedrohung wird skizziert, diejenigen, die ihr begegnen werden, formieren sich - und dabei ist bedeutsamer, um wen es sich handelt, welche Charaktere in den Figuren stecken, als etwa, wie die politischen Hintergründe der Entwicklung genau aussehen.
Anfangs übertreibt es die Autorin vor allem sprachlich ein wenig, erzählt deutlich zu blumig und bildreich, was sich mit dem Konkreterwerden der Handlung auf angenehme Weise reduziert. Der Beginn des zweiten Erzählstrangs hat mich sehr stutzig werden lassen, seitenlang glaubte ich, daß fälschlicherweise Teile eines völlig anderen Buches eingebunden worden waren - der Bruch ist sehr hart, aber letztlich nötig. Am Ende mochte ich das Buch kaum weglegen, denn es ist sehr originell, behutsam und aufwendig erzählt, spannend allemal - und es ist nicht Susanne Gerdom, die den Vergleich scheuen müßte.