Als wir träumten.
Roman.
Clemens Meyer, Fischer 2007





Um ehrlich zu sein ...

Clemens Meyer hat für seinen Erstling viel Anerkennung und einige Literaturpreise erhalten. Der Roman wird vor allem für seine Authentizität, die "Sprachgewalt" und den Umgang mit der Thematik gelobt.
In zeitlich wechselnden - und nicht immer leicht einzuordnenden - Episoden erzählt Meyer von den Leipziger Kumpels Daniel, Walter, Mark, Paul, Pitbull und Rico. Der Leser wird durch ihre Kindheit geführt, als die Jungen Pioniere waren, und erlebt sie später in der Adoleszenz oder als junge Erwachsene, rund um die Wendezeit. Daniel, Hauptfigur und Ich-Erzähler, verliebt sich als Grundschüler in die Klassenkameradin Kati, die jedoch in den Westen rübermacht; die spätere Flamme mit dem Kosenamen "Estrellita" wird ihn erst für den Chef einer konkurrierenden Bande verlassen und dann im Puff landen. Damit ist der romantische Teil des Buches weitgehend abgehakt.
Der Rest befasst sich mir Sauferei und Raucherei, mit Kämpfen, Knastaufenthalten, Tattoos, Fußball, Brüchen, Autodiebstählen und kleinen Betrügereien, den Rivalitäten zwischen den Banden und den Problemen mit Glatzen ("Reudnitzer Rechte") oder Zecken (Hausbesetzern). Es wird viel und äußerst hart geprügelt, noch viel mehr gesoffen und so gut wie pausenlos geraucht. Zwei der Freunde sterben, der eine an einer Überdosis und der andere bei einem Verkehrsunfall. Und mittendrin steht Daniel, der seine - an keiner Stelle formulierten - Hoffnungen längst aufgegeben hat, was für seine Vorbilder - allen voran Boxtalent Rico - ebenso gilt. Wenn in diesem Buch dem Titel entsprechend geträumt wird, dann bestenfalls in kleinem Maßstab. Einige einschneidende Ereignisse erzählt Meyer mehrfach, quasi in der Wunschfassung des Protagonisten und danach (vielleicht) als Realversion. Es sind mögliche Wendepunkte, aber der Spielraum ist klein. Über allem steht die Gewissheit, dass es sowieso nicht besser wird. Das Buch ist traurig und brutal; wenn es sanfte Zwischentöne gibt, befassen sich diese vor allem mit dem Verhältnis der Freunde, mit Imponiergehabe, Loyalität und Ehre. Die Erwachsenen, die in "Als wir träumten" auftreten, sind durch die Bank abgewrackte Säufer. Das Leipziger Viertel, in dem die Handlung spielt, ist trüb, schmutzig und vernachlässigt. Fast ein Kriegsgebiet.
Eine Milieustudie also - durchgängige Handlung im eigentlichen Sinn gibt es nicht, die Episoden - formal dicht an Kurzgeschichten - stehen in eher lockerer Verbindung, erzählen meistens Schlüsselerlebnisse, dienen aber keiner übergeordneten Dramaturgie im Sinne einer Entwicklung, die eben auch weitgehend fehlt. Was das Buch ausmacht, es besonders macht, sind die Authentizität und das direkte Miterleben - beides allerdings mit einer gewissen Zähigkeit einhergehend. Viele Kapitel drehen sich auf fast quälende Art um nahezu Belangloses, zudem generiert die zwar glaubwürdige, aber technisch einfache Erzählsprache eine Vielzahl von Wort- und Phrasenwiederholungen. Meyer benutzt einige Verben - wie blicken und laufen - in einer Ausschließlichkeit, die weit über Purismus hinausgeht. Das ist zweifelsohne der Glaubwürdigkeit geschuldet, hat stilistische Konsequenz, liest sich aber manchmal nicht gut. Oft wünscht man sich, das Kapitel wäre endlich vorbei, etwa wenn detailliert und in den immer gleichen Worten seitenlang von Ablagen und Stößen beim Billard erzählt wird. Die Spannung, die hohe atmosphärische Dichte, das Krisenhafte der Situation - es geht parallel um die Mitschuld am Tod eines der Freunde - werden allmählich von Langeweile niedergedrückt. An einigen derartigen Stellen war ich kurz davor, den Roman beiseite zu legen.
Überhaupt hätte "Als wir träumten" gut und gerne hundertfünfzig Seiten kürzer sein können. Dafür enden einige Episoden im Nichts, und der Leser wünscht sich bis zum Schluss, etwas über ihren Fortgang zu erfahren. Vergebens.
Trotzdem ist das ein einzigartiges und sehr bemerkenswertes Buch. Ein wichtiger, vielleicht sogar ein großer Roman, der schmerzt und wütend macht, aber leider nicht nur im vom Autor beabsichtigten Sinn. Clemens Meyer hat zwar die erzählerische Grundregel "Show, don't tell" fast bis zur Perfektion getrieben, aber die mit der hohen Authentizität einhergehenden Problematiken nicht ganz gemeistert. Empfehlenswert ist die Lektüre jedoch allemal. Aber, um ehrlich zu sein: Großes literarisches Vergnügen bereitet sie nicht.

Das Buch bei Amazon

zurück

Übersicht: Tom Liehr

©Tom Liehr - http://www.tom-liehr.de - Kontakt