Alle, alle lieben dich. Roman.
Stewart O'Nan, Rowohlt 2009


alle alle

Messerscharfe Bestandsaufnahme

Rowohlt wirbt für diesen Roman mit der Kategorisierung "hochliterarischer Thriller". Dieses Buch ist - auf seine Art - spannend, fraglos, aber es ist ganz sicher kein Thriller.

Die achtzehnjährige Kim verschwindet nach einer Strandparty mit Freunden, und ihrer Familie wird bald klar, dass der Ausnahmefall eingetreten ist. Beinahe umgehend wird eine akribisch organisierte Suche nach dem hübschen, intelligenten Mädchen gestartet. Fran und Ed, die Eltern, entwickeln sich in kurzer Frist zu Experten. Die Organisation der Suche gerät zum emotionalen Ablenkungsmanöver, das Elternpaar und die jüngere Schwester verändern sich und ihr Leben, das fortan der Detektiv- und Öffentlichkeitsarbeit untergeordnet wird, wobei die Familie die gesamte Stadt einbezieht. Während Fran, die Mutter, die Zuständigkeit für Organisatorisches und Pressearbeit übernimmt, findet der Vater seine Aufgabe im generalstabsmäßig geplanten Durchforsten der Umgebung. Dann entdeckt die Polizei das Auto des vermissten Mädchens, weit vom Heimatort Kingsville entfernt.

O'Nan erzählt aus wechselnden Perspektiven, distanziert-beobachtend, aber aus sehr geringer Entfernung, wobei mal ein Elternteil im Vordergrund steht, dann Lindsay, die kleine Schwester, die nach und nach aus dem Schatten der vermissten Kim hervortritt, aber auch J.P., Kims Freund, und Nina, die beste Freundin, übernehmen zuweilen die Führung. Der Autor verzichtet dabei auf Kommentare, er berichtet äußerst präzise, nachvollziehbar und schnörkellos. Gelegentlich hat das Buch die erzählerische Qualität eines Polizeiberichts, aber es wäre falsch, dies für die literarische Einordnung heranzuziehen. Die Detailgenauigkeit und hohe gefühlte Authentizität des Geschehens und seine Reflexion machen den großen Reiz dieses Romans aus. Dass es unausweichlich auf das wahrscheinlichste Ende hinausläuft, nimmt dem nur wenig. "Alle, alle lieben Dich" ist kein Schema-F-Roman mit Whodunnit-Showdown, und, wie erwähnt, ganz sicher kein Thriller. Es ist die messerscharfe Bestandsaufnahme einer Grenzsituation, in die niemand je kommen möchte, und eine genaue Skizze der beteiligten Figuren, ihrer Handlungsweisen und Motivationen. Effekthascherei findet nicht statt, ganz im Gegenteil. Die erzählerische Akribie treibt Steward O'Nan allerdings manchmal etwas zu weit; das Buch hätte verlustfrei auch hundert Seiten kürzer ausfallen können.

Es ist ausgesprochen ergreifend und sehr interessant, die Veränderung dieser Familie mitzuerleben, letztlich über mehrere Jahre hinweg. Der Zurückhaltung des Autors zugunsten seiner Figuren ist es in erster Linie geschuldet, dass dabei ein enorm lesbarer und hochwertiger Roman entstanden ist.

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