Abbitte.
Roman.
Ian McEwan, Diogenes 2002

 

"Der Zementgarten", das war ein Film, der mich in meiner späteren Jugend ziemlich verstört hat. Der 1948 geborene Ian McEwan hatte das Buch geschrieben.

"Abbitte" beginnt wie ein Sittenbild, wie einer dieser viktorianischen Romane: Sommer-Landleben, flirrende Hitze, Herrenhaus, die Töchter, die Köchin, der Gärtner - im britischen Surrey, im Jahr 1935. Familie Tallis hat zum Essen geladen, der Bruder Leon kommt aus Cambridge, bringt einen Freund mit, Paul Marshall, den Schokoriegel-Millionär, der bereits eine Army-Version seiner Süßigkeit plant, weil alle davon ausgehen, daß es wieder Krieg geben wird. Lola, Jackson und Pierrot sind zugegen, die Kinder der Mutterschwester, weil die und ihr Mann sich gerade hoffnungslos entzweit haben. Cecilia Tallis ist dreiundzwanzig, Leon zwei Jahre älter und Briony, das etwas introvertierte Nesthäkchen, dreizehn. Robbie Turner, der Sohn des Gärtners, Zögling des Tallis-Familienoberhauptes und ausgezeichneter Cambridge-Absolvent, blickt erwartungsfroh dem Medizinstudium entgegen, das, so steht zu hoffen, ebenfalls von Jack Tallis finanziert werden wird. Er und die drei Kinder des Hauses sind seit jeher Freunde, doch mit Cecilia verbindet ihn inzwischen mehr, wie beide merken - der Beginn einer zärtlichen, anfangs noch unbeholfen tastenden, nichtsdestotrotz sehr leidenschaftlichen Liebe steht bevor. Wenn da nicht Briony wäre.

Briony schreibt, früher Märchen, jetzt Theaterstücke, kleine, kinderweltliche Romanzen mit Helden und Antihelden; vor dem Abendessen soll "Die Heimsuchungen der Arabella" aufgeführt werden, zu Leons Ehren, mit den jetzt elternlosen Zwillingen Jack und Pierrot in Neben-, Briony und Lola in Hauptrollen.
Doch die kurzfristigen Proben scheitern, die Hitze macht allen zu schaffen, der elterliche Bruch liegt nur Tage zurück, und Briony hat ganz andere Sorgen, weil sie vom Fenster aus eine Szene zwischen Cecilia und Robbie beobachtet hat, die nach ihrer schriftstellerischen Deutung gewalttätig, zwanghaft war. Ein Brief, den sie in Robbies Auftrag der Schwester übergeben soll, und der fälschlicherweise in einer etwas obszönen Fassung im Umschlag steckt, nährt ihre Befürchtungen, und eine Begegnung in der düsteren Bibliothek, in der Cecilia und Robbie halbentkleidet zu kämpfen scheinen, verfestigt ihre Meinung, daß sich der Freund zum Triebtäter, zum Psychopathen entwickelt hat. Nach dem Essen verschwinden die Zwillinge, hinterlassen einen herzergreifenden Abschiedsbrief - Suchtrupps machen sich auf den Weg, Briony alleine, findet statt der Zwillinge aber die verstörte Lola, die im dunklen Park vergewaltigt wurde - Briony sah den Täter fliehen, und ist sich sicher, daß es sich um Robbie handelte. Das kindliche Gemüt in seinem frühschriftstellerischen Schwarzweißdenken wird zum Ankläger, vernichtet im Antagonistenglauben Robbies Existenz und die Liebe zur Schwester. Die Familie zerbricht, der Krieg bricht aus.

Anfangs wußte ich nicht, ob ich je über Seite zwanzig, dreißig hinauskommen würde, zu possierlich, hausbacken schienen die Schilderungen, bis ich spürte, wie unglaublich dicht und zwingend, wahrhaftig achtsam McEwan seine Figuren und ihre Entwicklung komponiert. Die Erzählung hat etwas von der Fahrt auf einer alten Holzachterbahn: Anfangs lächelt man, inzwischen Zehnfachloopings gewöhnt, senkrechte Abstürze aus hundert Metern Höhe, aber dann zeigt das alte Ding seine Zähne, seinen leicht anachronistischen Reiz, die ganz eigene, sehr unhölzerne Wucht, gegen die moderne Superlative nie anstinken können. In einer sanften, fast "hohen" Sprache, mit großem Feingefühl und in einer fantastischen Diktion folgen die Kriegserlebnisse Robbies, Brionys und Cecilias, die Wiederannäherung, der Sühneversuch der kleinen Schwester. McEwan erzählt innerhalb der Erzählung, modelliert aus drei Perspektiven dann doch ein Sittenbild, aber eines um Wahrheit und Schuld, um Fiktion und Schicksal. Eine Art Manifest gegen den Augenschein, aber gleichzeitig weit mehr als das.

Leider ist das Buch zeitweise ein bißchen langweilig und nebensächlich, und der Autor ist sehr auf seine drei Hauptfiguren fixiert, plaziert alle Nebendarsteller so weit hinten im Achterbahnzug, daß sie nichts mehr von der Fahrt haben, vor allem im zweiten und dritten Teil des Romans. Dessen ungeachtet bleibt es eine sehr ansprechende, hochklassige Lektüre, die ihren Reiz beileibe nicht nur aus der zeitgeschichtlichen Bedeutung, sondern insbesondere aus der einzigartigen literarischen Umsetzung bezieht. Die Botschaft ist vielleicht ein bißchen fad und zu früh allzu leicht erkennbar - der einzige wirkliche Makel des ansonsten sehr empfehlenswerten Buches.


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