42. Roman.
Thomas Lehr, Aufbau-Verlag 2005
Eine relativ amorphe Besuchergruppe verläßt den DELPHI-Versuchskomplex des CERN-Forschungszentrums bei Genf - Journalisten, Wissenschaftler, Interessierte. Als sie auf den Vorplatz des Gebäudes treten, müssen sie feststellen, daß sich die Welt um sie herum in einer Stasis befindet. Alles bis auf die 70 Menschen ist um exakt 12:47:42 Uhr in seiner Bewegung erstarrt; Flugzeuge und Vögel hängen in der Luft, Menschen verharren in Bewegungen, das Gras richtet sich, vom Wind gebeugt, nicht mehr auf. Die Zeit steht still. Nur diese "Chronofizierten", offenbar umgeben von Blasen, die sich bei dichtem Beeinandersein auch ausweiten lassen, sind dem Phänomen "Zeit" weiterhin ausgesetzt. Was sie berühren, wird für einen Sekundenbruchteil von der Zeit infiziert - Menschen seufzen kurz, Monitore erlöschen, weil kein Strom mehr fließt, alles einmalig, danach nicht mehr. Wasser reagiert noch, in unmittelbarer Umgebung. Die Chronofizierten können atmen.
Der Berliner Journalist Adrian erzählt von den fünf Jahren, die sich die CERN-Besucher in diesem seltsamen, beängstigenden, natürlich auch interessanten, hauptsächlich aber enervierenden Zustand befinden. Die Gruppe trennt sich, man marschiert durch Europa, sucht Plätze auf, die man kennt, oder solche, die man auf ihren - immer erwartungsgemäßen - Zustand überprüfen möchte, legt tausende von Kilometern zurück, treibt Späße, genießt, ändert, mordet auch. Man wohnt in teuren Hotels, ißt die - noch warmen - Speisen, die vor den immerwährend mittagessenden "Fuzzis" stehen, jenen vielen anderen Menschen, die sich außerhalb der Zeit befinden. "Zombies" nennen sich die CERN-Besucher schließlich selbst. Man vergeht sich, an den hübschen Frauen, die man in Hotelzimmern vorfindet, oder an anderen, auf andere Art, je nach Gusto. Schließlich bricht auch Gewalt aus, der Vielfalt der Ängste entspringend, der ergebnislosen Suche nach einer Lösung, wenigstens einer Erklärung.
Die Idee dieses Buches ist faszinierend, seine Wissenschafts- und Sozialkritik sind es, noch faszinierender jedoch ist die Umsetzung, vor allem sprachlich. Obwohl sie zunächst auf sperrige Art intellektuell erscheint, vereinnahmt Lehrs drängende, facettenreiche, zuweilen halbseitige Sätze bauende Sprache sehr schnell. Dieses Buch ist reine Kunst, im Sinne des Wortes - hochintelligent, durchtrieben, wissensreich, spannend, explosiv. Jeder Versuch, ihm in einer Rezension gerecht zu werden, muß scheitern angesichts der enormen Fähigkeiten, die hier brillant zu einem Roman der Extraklasse fokussiert wurden. "42" ist für den Deutschen Bücherpreis 2005 nominiert, und ich suche noch nach einem Wettbüro, in dem ich all mein Hab und Gut auf dieses Werk setzen kann.